Und Nachts die Angst
dicken Akte auf ihrem Schreibtisch, verschränkt die Arme und will offenbar gerade die nächste Frage stellen, als Reeve hinzufügt: »Sie hat mir nur die Nachricht an Sie mitgegeben, dass sie bereit ist – ich zitiere –, alles über Randy Vanderholt zu erzählen. Zitat Ende.«
»Aber sie weigert sich, in mein Büro zu kommen.«
»Sie weigert sich nicht, so hat sie das nicht ausgedrückt. Sie bittet Sie nur, zu ihr nach Hause zu kommen.«
»Ich verstehe.« Burke seufzt. »Minderjährige Mädchen können dem Gesetz nach nicht …« Sie verwirft den Gedanken mit einer Geste. »Was hat sie Ihnen noch gesagt?«
Reeve windet sich innerlich. Sie fühlt sich wie im Kreuzverhör. »Das war’s eigentlich. Sie hat mir ihr Zimmer gezeigt, ein paar Erinnerungsstücke, Fotos, Mädchenkram.«
»Und dann ist sie einfach aufgesprungen und hat Sie gefragt, ob Sie ihre Narben sehen wollen? Schwer zu glauben, Miss LeClaire.«
»So war es auch nicht. Sie wollte erst meine sehen.«
»Ihre Narben?«
Reeve kämpft ein Übelkeit erregendes Déjà-vu-Gefühl nieder und nickt.
»Okay. Sie beide haben also Narben verglichen. Und dann?«
»Dann sagte sie, sie habe eine Nachricht für die Frau Anwältin.«
»Den Ausdruck hat sie benutzt?«
»Deswegen habe ich es so gesagt. Das war ein Zitat. Sie sagte: ›Ich habe eine Nachricht für die Frau Anwältin.‹«
»Und das wäre dann, dass sie mir alles über Vanderholt erzählen will?«
»Ja.«
Burke starrt sie eindringlich an. »Erzählen Sie weiter.«
Reeve schließt die Augen. Sie sieht Tilly vor sich auf dem Bett sitzen, die Arme um die Knie geschlungen, der nüchterne Blick, der nicht flackert.
»Da ist noch etwas, richtig?«, hakt Burke nach.
Reeve seufzt. »Sie hat mich nach meiner Familie gefragt und wie es war, von Seattle nach San Francisco umzuziehen.«
»Was? Denken die Cavanaughs an einen Umzug?«
»Mir gegenüber haben sie nichts davon gesagt. Ich hatte eher den Eindruck, dass Tilly erst durch mich auf die Idee gekommen ist.«
»Sie haben den Vorschlag gemacht?« Ihr Tonfall wird immer ungläubiger.
»Nein. Als wir zuvor alle zusammen im Wohnzimmer saßen, hatte ich der Familie etwas von mir erzählt. Ich wollte ihnen klarmachen, dass ich verstehen kann, was sie durchmachen.«
»Sie haben sich bemüht, eine Beziehung aufzubauen?«
»Im Prinzip ja. Das war ja der Sinn der Übung.«
»Und Dr. Lerner hat das erlaubt?«
»Die Cavanaughs haben mich ausdrücklich gebeten, mit ihnen zu sprechen.«
»Und jetzt will Tilly, dass die Familie die Kisten packt und umzieht?«
»Meine Familie hat es damals getan. Das Medieninteresse war grausam.«
»Und was haben Sie beide sonst noch besprochen?«
Reeve bohrt die Nägel in ihre Handfläche. Sie hätte diese ganze Begegnung nur allzu gerne vermieden. »Tilly hat mich gefragt, ob ich meine, dass sie ihren Namen ändern sollte.«
Burke klappt den Mund auf, um etwas zu erwidern, klappt ihn aber wieder zu. Schließlich sagt sie: »So wie Sie es gemacht haben?«
»Genau.«
»Und was haben Sie geantwortet?«
Reeve hebt die Schultern. »Dass sie es selbst wissen muss. Dass sie mit ihren Eltern darüber sprechen muss. Was hätte ich sonst sagen sollen?«
Burke verschränkt die Arme. »Und das soll es gewesen sein? Was haben Sie mir noch nicht erzählt?«
»Nichts. Dann wollte sie Kekse.«
»Ich muss alles wissen, was sie Ihnen sagt. Alles, haben Sie verstanden?« Burke bedenkt sie mit einem langen, finsteren Blick, dann steht sie vom Schreibtisch auf und beginnt, im Büro auf und ab zu gehen. Die Absätze der polierten schwarzen Stiefel klacken auf dem Boden.
»Hat sie Ihnen etwas über Vanderholt erzählt?«
»Nein.«
»Wirklich nicht? Gar nichts?«
»Nichts.«
»Das kann ich kaum glauben.«
Reeve schürzt die Lippen.
»Wie hat sie sich verhalten?«, fragt Burke. »Hat sie geweint? War sie verstört?«
»Nein. Sie ist stoisch – affektiv verflacht –, also ziemlich gefühlsarm. Dr. Lerner wird Ihnen schon erklärt haben, dass es ganz normal ist bei Opfern wie …«, wie uns, hätte sie beinahe gesagt, »… wie Tilly.«
Burke wendet den Blick ab. »Mag sein, aber die Geschworenen werden es komisch finden«, murmelt sie.
Reeve fällt die bittere Wahrheit über Juristen ein: Es geht nur um den Fall, nur darum, ihn zu gewinnen. Plötzlich ist sie ungeheuer erschöpft. Sie ist seit Tagesanbruch auf den Füßen, und die lange Fahrt von San Francisco hierher war nur der Anfang eines höllischen Tages.
»Dann
Weitere Kostenlose Bücher