Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und Nachts die Angst

Und Nachts die Angst

Titel: Und Nachts die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Norton
Vom Netzwerk:
Hause im eigenen Bett, kriege genug zu essen, und meine Eltern kümmern sich um mich. Ich dürfte mich wirklich nicht beschweren, nicht wahr?« Auch sie trinkt ihre Schokolade, und ihr Gesicht wird immer finsterer.
    Reeve sieht sich in dem Zimmer um und lässt Tillys aggressiven Tonfall unkommentiert verklingen. Sie entdeckt neue Zeichnungen an Tillys Pinnwand.
    »Aber warum will keiner kapieren, dass ich kein kleines Kind mehr bin?«, sagt Tilly plötzlich hitzig. »Alle tun, als wär ich ein dummes Baby. Ich sitze hier in diesem Zimmer ohne Telefon, Fernseher oder Computer, und Freunde habe ich auch keine mehr, weil alle mit mir umgehen, als hätte ich irgendeinen Schaden!« Sie trinkt einen großen Schluck Kakao. »Und selbst wenn – worüber sollten wir schon reden!«
    »Es ist hart, ich weiß.«
    »Natürlich bin ich froh, wieder zu Hause zu sein, das ist ja wohl klar, aber mich nervt, wie mich alle behandeln. Ich habe keine Lust, hier drin zu hocken und Harry-Potter-Filme zu gucken.« Tilly schaukelt mit angezogenen Beinen auf dem Bett vor und zurück, eine wütende Kindfrau.
    »Kann ich verstehen.«
    »Ich meine, ich hab ein Jahr in einem Kerker mit Vergewaltigungen und Schwänzelutschen verbracht, und die glauben, sie müssten mich vor dem Fernsehen schützen?«
    Reeve lässt die harten Worte auf sich wirken. Sie sucht vergeblich nach einer angemessenen Antwort, mit der sie das Mädchen auf dem zerwühlten Bett trösten könnte. Sie steht auf, geht mit dem Becher in der Hand durch den Raum und betrachtet die Zeichnungen an der Pinnwand. Kohle und Aquarell.
    »Die sind neu.«
    Tilly schaut flüchtig hinüber. »Ja.«
    Reeve beugt sich vor, um eines genauer zu betrachten. Eine in Blau, Lila und Orange gehaltene Version eines berühmten Gemäldes. »Das heißt Der Schrei, nicht? Von Munch. Es ist echt gut geworden.«
    Tilly schenkt ihr einen nicht zu deutenden Blick, trinkt den Becher leer und stellt ihn ab. »Hast du gemacht, worum ich dich gebeten habe? Mit meinen Eltern geredet?«
    »Was den Umzug angeht? Ich denke schon, dass sie das mit dem Besuch bei deiner Tante in Fresno ernst meinen.«
    »Besuchen ist nicht umziehen.«
    »Na ja, jetzt, wo der Prozess ansteht …« Reeve gestikuliert mit offenen Händen.
    »Aber ich habe der Anwältin doch alles gesagt, was ich … Ich habe ihr alles gesagt! Auf mich kann sie doch jetzt verzichten, oder?«
    »Ich wünschte, es wäre so.«
    Tilly verschränkt die Arme und runzelt die Stirn.
    »Für mich klingt es, als seien deine Eltern bereit, direkt nach dem Gerichtsverfahren umzuziehen.«
    »Aber das geht mir nicht schnell genug.«
    »Du könntest eine Weile zu Hause unterrichtet werden. Das habe ich auch gemacht.«
    Das Mädchen bedenkt Reeve mit einem verächtlichen Blick und schnappt sich Stift und Zeichenblock, klappt ihn aber noch nicht wieder auf.
    »Hör mal, Tilly.« Reeve setzt sich vorsichtig aufs Bett. »Ich habe über diese zwei anderen vermissten Mädchen nachgedacht. Wenn du ein paar Monate zurückdenkst: Hat Vanderholt irgendwann angefangen, sich komisch zu benehmen? Oder irgendwie anders?«
    » Nein. Wie oft habe ich das schon gesagt! Dass er mich in den anderen Kerker gebracht hat, war das Einzige, was sich verändert hat.«
    »Hat er etwas über die anderen Mädchen gesagt?«
    »Ich habe doch schon gesagt, dass er Abby und Hannah nicht entführt hat«, sagt sie und klappt den Block auf. »Und jetzt lass mich in Ruhe.«
    Reeve presst die Lippen aufeinander, nimmt die beiden leeren Becher und bringt sie zu Mrs. Cavanaugh in die Küche.
    Die große Frau nimmt sie ihr ab und stellt sie in die Spüle. »Noch mal vielen, vielen Dank für Ihre Hilfe, Reeve«, sagt sie. »Ich kann Ihnen gar nicht oft genug sagen, wie froh wir sind, dass …« Die Worte bleiben stecken, und sie räuspert sich. »… dass Sie uns helfen, aus unserer Kleinen wieder ein normales Mädchen zu machen.«
    Reeve kann nur mit den Schultern zucken. Tilly ist nicht mehr »ihre Kleine«, und ob man hoffen kann, dass irgendetwas jemals wieder normal wird, ist fraglich. Sie nähert sich dem Trüppchen, das sich um den Küchentisch versammelt hat: Mr. Cavanaugh, Deputy Hudson und Dr. Lerner. Alle verstummen und blicken auf, als habe sie sie unterbrochen.
    »Sie hat mich weggeschickt«, sagt sie und kommt sich vor wie eine Versagerin.
    Mr. Cavanaugh stöhnt.
    »Oh, nein. Das tut mir leid«, sagt Mrs. Cavanaugh. »Es ist mir wirklich unverständlich, wieso …«
    Reeve hält eine Hand hoch.

Weitere Kostenlose Bücher