Und Nachts die Angst
»Bitte glauben Sie mir, ich kann das ganz und gar verstehen. Ich war damals genauso – meine Stimmung war ein einziges Auf und Ab.«
»Sie hatte eine schlimme Nacht.« Mr. Cavanaugh wirft seiner Frau einen Blick zu.
Mrs. Cavanaugh packt den Arm ihres Mannes. »Und sie ist schreiend aufgewacht.«
Reeve spürt die Blicke der anderen auf sich. Es ist offensichtlich, dass man mehr von ihr erwartet, aber sie bekommt keinen einzigen angemessenen Satz heraus.
Augenblicklich kommt Dr. Lerner ihr zu Hilfe. »Es ist eine schwierige Zeit, vor allem nachdem sie am Samstag mit Burke gesprochen und alles noch einmal durchlebt hat.«
Reeve wirft ihm einen dankbaren Blick zu.
»Ich kann ihr etwas verschreiben, damit sie besser schläft«, fährt Dr. Lerner fort. »Und es gibt keinen Grund, die heutige Sitzung zu erzwingen. Wir warten, bis sie sich besser fühlt. Geben wir ihr einfach ein paar Minuten. Sie wird schon kommen.«
Und in der Tat tappt Tilly ein Weilchen darauf in die Küche und schlingt ihrer Mutter schweigend die Arme um die Taille.
23. Kapitel
R eeve steigt auf den Beifahrersitz von Nick Hudsons SUV und schnallt sich an. Die Cavanaughs befinden sich in einer verlängerten Sitzung mit Dr. Lerner, aber Hudson muss zur Arbeit zurück und hat ihr angeboten, sie am Hotel abzusetzen. Sie duckt und versteckt sich vor den hungrigen Blicken der Fernsehteams, die am Tor herumlungern. Doch schon nach der ersten Kurve setzt sie sich wieder gerade hin und achtet auf die Beschilderung und auf besondere Merkmale oder auffällige Weihnachtsbeleuchtungen. Wenn sie eine Weile hierbleiben will, muss sie sich in Jefferson ein wenig auskennen.
Hudson fummelt am Radio, während sie auf die Stadt zufahren, und dreht die Lautstärke auf, als ein Country-Song mit einem ergreifenden, tieftraurigen Text ertönt. Dabei wirft er ihr immer wieder einen Blick zu.
»Übrigens«, sagt er schließlich. »Ich wollte mich noch bei Ihnen entschuldigen.«
»Wofür?«
»Für meine dummen Bemerkungen zum Stockholm-Syndrom.«
Sie schnaubt. »Warum? So oft taucht so was bei Ihnen ja nicht unbedingt auf.«
»Das ist keine Entschuldigung. Ich hatte Psychologie am College, ich weiß einiges über PTBS, also hätte ich schneller kapieren müssen.«
»Na ja, Sie haben ja nicht jeden Tag damit zu tun.«
»Nein, aber ich habe schon ziemlich üble Dinge erlebt. Zum Beispiel Männer, die ihre Frauen so schlimm verprügeln und demütigen, dass jeder Folterknecht blass dagegen aussieht.«
»Aha. Okay, ich verzeihe Ihnen.« Ihr Tonfall ist so locker, dass sie fürchtet, er könnte glauben, sie wolle mit ihm flirten.
Er schweigt. Einen Moment später: »Ähm, wenn ich die Frage stellen darf … Was ist aus Ihrem Entführer geworden?«
Ihr Inneres zieht sich zusammen, aber ihre Stimme bleibt locker. »Er sitzt in einer geschlossenen Anstalt.«
»Nicht im Gefängnis?«
»Nö.«
»Das ist ja wohl ein Witz.«
»Das ist Washington State.«
Er grunzt missbilligend. »Also schuldunfähig wegen einer krankhaften seelischen Störung?«
»Sie meinen SASA? Wegen ›schwerer anderer seelischer Abartigkeit‹?«, scherzt sie. »Ätsch. Ich kenne auch ein paar Akronyme.«
Er neigt den Kopf in ihre Richtung.
»Auf jeden Fall wäre das besser gewesen als das, was wirklich passiert ist.« Sie seufzt.
»Das heißt, er ist für schuldig befunden worden?«
»Genau. Irre, aber schuldig.«
»Er war sich also bewusst, dass er etwas Falsches tat, aber …? Erzählen Sie mir, was passiert ist. Ich meine, natürlich nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Na ja, nachdem die Verteidigung ihr ganzes Tamtam veranstaltet hatte, wurde Flint zu weit weniger verurteilt, als wir erwartet hatten. Weil er aber so ein jämmerliches krankes Schwein war, wusste das Justizministerium nicht wirklich, was es mit ihm machen sollte. Und da er unter einer Persönlichkeitsstörung litt …«, sie malt Anführungszeichen in die Luft, »… schickte ihn das Gefängnis, obwohl er für voll schuldfähig befunden worden war, schließlich doch in eine geschlossene Anstalt.«
»Wie bitte? Das ist ja völlig daneben!«
»Wie ich schon sagte: Das ist Washington State.«
Er bremst an einer roten Ampel und wendet sich ihr zu. »Übrigens wollte ich Ihnen schon die ganze Zeit sagen, dass es verdammt bewundernswert ist, wie gut Sie sich gemacht haben.«
»Na, wenn das nicht herablassend klingt!«
»Nein, bitte nicht, bitte sehen Sie das nicht so. Ich finde es einfach großartig, wie Sie mit
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