Und Nachts die Angst
Tilly umgehen. Bei allem, was Sie durchgemacht haben, so souverän aufzutreten …«
»Souverän. Das hat mir noch niemand gesagt.«
»Das glaube ich kaum.«
Sie schüttelt den Kopf, sagt aber nichts mehr. Als sie wieder hinaussieht, um sich die Umgebung einzuprägen, kommt ihr plötzlich ein Gedanke. So ruhig, wie es ihr möglich ist, fragt sie: »Gibt es irgendeine Möglichkeit, dass ich mir Randy Vanderholts Akte ansehen könnte?«
»Das meinen Sie nicht ernst.«
»Ich muss einfach immer an diese anderen beiden Mädchen denken, und da habe ich mich gefragt …«
»Vergessen Sie’s. Das hier ist eine laufende Ermittlung.«
Sie wirft ihm einen Blick zu.
»Ich kann nicht fassen, dass Sie mich das ernsthaft fragen.«
»Wieso denn nicht? Dr. Lerner kennt die Akte, oder?« Sie verschränkt die Arme. »Ich habe die Erfahrung gemacht«, sagt sie schnippisch, »dass Mitarbeiter der Strafverfolgungsorgane manchmal geneigt sind, auch zu unorthodoxen Mitteln zu greifen.«
Er lacht leise. »Nett gesagt.«
»Und wahr.«
»Na klar. Geben Sie mir doch mal ein Beispiel. Wann genau sind Sie denn in den Genuss unorthodoxer Methoden gekommen?«
»Sie zweifeln an meinen Worten?«
»Ein Beispiel«, wiederholt er stur.
Sie schließt kurz die Augen. »Okay. Nach dem Prozess in Washington sagte mir einer der Ermittler, es gäbe einen Universalschlüssel für alle Handschellen.«
»Stimmt. Und?«
»Also habe ich ihn um einen gebeten, und er schenkte ihn mir.«
»Das hätte er nicht tun dürfen.«
»Tja, nun. War das unorthodox oder nicht?«
»Okay, gewonnen.«
»Schön. Kann ich also Vanderholts Akte lesen?«
»Nein.«
»Und warum nicht?«
»Es ist lächerlich, überhaupt danach zu fragen.«
»Warum? Es könnte mir mit Tilly weiterhelfen.«
Er fährt weiter, ohne zu antworten.
»Ich bin absolut vertrauenswürdig, ich kann schweigen, mich kennt keiner. Und niemand weiß, dass ich hier bin.«
An der nächsten Ampel wirft er ihr einen Seitenblick zu. »Ich denk drüber nach.«
»Klasse.«
»Aber das ist kein Versprechen«, fügt er hastig hinzu. »Denn ich weiß ja nicht, wie Sie und Dr. Lerner sich geeinigt haben, aber ich kann Ihnen garantieren, dass Jackie Burke einen Tobsuchtsanfall kriegen wird, wenn sie hört, dass wir solche Informationen an Sie weitergeben. Einen lupenreinen, erstklassigen, absolut vernichtenden Tobsuchtsanfall.«
Die Three Rivers Mall sieht aus wie jedes andere amerikanische Einkaufszentrum auf der grünen Wiese, die vor allem aus Asphalt besteht. Trotz des Namens sind nirgendwo Flüsse zu sehen, wie Reeve feststellt, als sie mit dem Jeep ihres Vaters herumkurvt und nach einem Parkplatz sucht. Schließlich findet sie einen, steigt aus und saust durch die frostige Luft zum Haupteingang.
Sie geht zielstrebig vor, denn ihre Jeans und die Jacke können gegen die eisige Kälte, die von den schneebedeckten Gipfeln herunterweht, nichts mehr ausrichten. In einer Stunde hat sie, was sie braucht: drei dicke Pullis, einen Schal, eine Cordhose, Handschuhe und fünf paar Socken. Gerade überlegt sie, was sie vergessen haben mag, als sie eine Filiale von Victoria’s Secret sieht. Gewöhnlich kommen ihr die Wäschemodels geradezu lächerlich unwirklich vor, doch heute lässt sie sich mit dem Strom der Weihnachtseinkäufer durch die Türen tragen. Eine halbe Stunde später ist sie in Besitz einer ganzen Tüte neuer schwarzer Unterwäsche, die zwar praktisch und schlicht ist, aber doch weiblicher als alles andere, was sie jemals besessen hat.
Eine seltene Erinnerung an Einkäufe mit ihrer Mutter durchfährt sie. »Frohe Weihnachten, was, Mom?«, murmelt sie und sieht sich nach dem Ausgang um.
Aber es ist schon später Mittag, und als die Düfte der Restaurants an ihr vorbeiziehen, zögert sie. Während sie die Tüten in ihren Händen wiegt und die langen Schlangen vor den Imbisstheken beäugt, kommt sie zu dem Schluss, dass sich ein Essenstablett mit Getränk besser balancieren lässt, wenn man keine Einkäufe schleppen muss. Sie sieht sich nach dem nächsten Ausgang zum Parkplatz um, entdeckt ihn und tritt an zwei Rauchern vorbei hinaus ins Freie.
Sie läuft zu ihrem Jeep, verstaut ihre Einkäufe im Kofferraum und hastet zurück zum Eingang, wo sie erneut an den Rauchern vorbeikommt. Sie betrachtet sie flüchtig, und der stämmigere von beiden kommt ihr irgendwie bekannt vor.
Der Gedanke lässt sie nicht los, während sie das Einkaufszentrum betritt. Sie dreht sich noch einmal um, späht durch
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