Und Nachts die Angst
zusammen!
Vielleicht sollte sie lieber nach Hause fahren. Tilly wird ja bald umziehen, und wenn Dr. Lerner nach Jefferson zurückkommt, hat er sicher alles im Griff. Außerdem hat er dafür gesorgt, dass dieser schreckliche Ermittler nicht mehr einfach so auftauchen und Tilly belästigen darf.
»Sie ist zu fragil«, hat Dr. Lerner gesagt.
Wo hat Reeve dieses Wort sonst noch gehört?
Hör auf, hör auf, hör auf!
Da an Schlaf nicht mehr zu denken ist, wirft sie die Decke von sich, zieht sich an und geht nach unten. Sie ist so zerstreut, dass sie in ihr Auto steigt und losfährt, ohne zu frühstücken.
Die Karte liegt noch ausgebreitet auf dem Beifahrersitz. Nick Hudson hat ihr die Liste der Maklerin abgenommen, aber sie braucht sie gar nicht, wie sie nun feststellt, denn die Adresse, die sie sucht, war die erste, die sie auf der Karte markiert hat. Sie verlässt die Stadt in Richtung Westen und fährt auf eine mit Schnee gekrönte Bergkette zu. Noch vor ein, zwei Tagen war ihr das Haus an der Tevis Ranch Road zu weit entfernt, doch jetzt findet sie es falsch, sich nur das erste Haus anzusehen, in dem Tilly gefangen gewesen war, aber nicht das zweite. Im Übrigen hat sie ja sonst nicht gerade viel zu tun.
Während der Fahrt ruft Reeve sich eine Unterhaltung mit Nick Hudson und Dr. Lerner in Erinnerung. Wann hat sie stattgefunden? Am Tag ihrer Ankunft?
Sie waren in einem Restaurant, und Hudson hatte gefragt: »Macht es Ihnen was aus, wenn ich eine Ähnlichkeit zwischen Ihrem und Tillys Fall anspreche?«
Sie versteifte sich. »Nein, natürlich nicht.«
»Ich habe darüber nachgedacht, wie Sie beide gerettet worden sind. In beiden Fällen war der Auslöser ein Umzug.«
»Ja. Das ist mir auch schon aufgefallen. Man hat uns nur entdeckt, weil unsere Entführer einen besseren Keller haben wollten.«
»Nur ein Zufall«, sagte er. »Ein reiner Glückstreffer.«
»Und das macht Ihnen Sorgen?«, bemerkte Dr. Lerner. »Wegen der anderen Mädchen? Weil ein Erfolg auf pures Glück statt solider Polizeiarbeit zurückzuführen ist?«
»Das trifft es wohl in etwa«, sagte Hudson stirnrunzelnd. »Wenn Mädchen entführt werden, dann meistens nicht, um sie langfristig festzuhalten. Verzeihen Sie mir meine Direktheit, aber statistisch betrachtet, na ja …« Er blickte zu Reeve.
»In den meisten Fällen werden sie umgebracht«, entgegnet sie ohne Umschweife. »Tilly hatte Glück. Ich hatte Glück. Das ist klar.«
Und dieses Gespräch nagt an ihr, während sie die Stadt immer weiter hinter sich lässt.
Der Verkehr in Richtung Westen ist erstaunlich mäßig. Sie fährt vom Highway ab und wendet sich nach links auf eine zweispurige Landstraße, die sich einige Meilen ins Vorgebirge hineinschlängelt. Bei so wenig Verkehr macht sie sich kaum die Mühe, in den Rückspiegel zu sehen.
Sie ist so tief in Gedanken versunken, dass sie den Abzweig zur Tevis Ranch Road fast verpasst. Das Straßenschild wird zum Teil durch einen Baum verdeckt, an dem von einem niedrigen Ast ein Schaukelreifen baumelt. Ein paar Meter dahinter steht ein Schuppen. Sie schlägt das Lenkrad ein und holpert auf eine Straße, die so schmal ist, dass man höchstens ein Fahrrad überholen könnte.
Reeve grübelt über die Parallelen zwischen ihrem und Tillys Fall. Sie hat instinktiv beide in einen Topf geworfen und daraus geschlossen, dass Daryl Wayne Flint und Randy Vanderholt aus dem gleichen faulenden Holz geschnitzt waren, aber es ist Unsinn. Schließlich ist Daryl Wayne Flint gezielt losgezogen, um sich ein Haus mit besserem Keller zu kaufen, während Vanderholt gezwungen war umzuziehen, oder nicht?
Die Straße steigt immer weiter an und führt sie an zerklüfteten Hängen vorbei, die mit dichtem Gestrüpp bewachsen sind. Endlich sieht sie das »Zu verkaufen«-Schild und biegt auf die Auffahrt, und mit einem Stich erinnert sie sich an Emily Ewings Bemerkung darüber, wie schwer das Haus zu verkaufen sein würde.
Das Haus wirkt wie ausgestorben. Es ist hässlich und gedrungen und hat eine schlammbraune Farbe. Der Betonweg hat Risse, die tiefe Veranda ist vergittert. Nichts davon muss ihr Angst einjagen, aber ihr graut es trotzdem.
Irgendwo in der Ferne bellt ein Hund, aber darüber hinaus ist es so still, dass sie sich wünscht, sie wäre nicht gekommen. Sie kann sich den Keller vorstellen, ohne ihn sehen zu müssen. Der Kerker, wie Tilly ihn genannt hat.
Sie nimmt sich zusammen und geht langsam die Treppe hinauf. An der Tür zur Veranda hängt ein
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