Und Nachts die Angst
darüber nachdenkt.
Der andere Typ kümmert sich nicht darum, ob sie blutet oder schreit oder weint. Eigentlich scheint ihn das erst richtig anzumachen, weswegen Hannah sich Mühe gibt, auf nichts, was er tut, zu reagieren.
Jay ist hässlich und fett und widerlich, aber wenigstens freut er sich nicht daran, ihr weh zu tun. Er macht immer ganz schnell, und nachher hockt er sich neben das Bett und streicht ihr übers Haar, als wolle er sich entschuldigen.
Der andere Typ ist nie nett. Er tut es einfach. Erst kommt Jay runter und zieht ein extra Betttuch auf und fesselt sie mit Handschellen ans Bett. Immer. Dann verbindet er ihr entweder die Augen, oder der andere Typ trägt diese gruselige Maske. Aber wahrscheinlich ist das besser, als diesem Schwein ins Gesicht sehen zu müssen.
Wenn sie je eine Chance dazu kriegt, reißt sie ihm den Schwanz ab und die Eier gleich mit. Das hat sie sich schon tausendmal vorgestellt.
Natürlich würde er sie umbringen, wenn sie das täte, aber das wäre okay. Früher oder später wird er es sowieso tun.
Anfangs hat sie sich oft ausgemalt, dass sie abhaut, aber jede Idee, die ihr kam, hatte mit Werkzeugen oder Fähigkeiten zu tun, die ungefähr so realistisch waren wie ein bescheuerter Superheldenfilm. Und wie oft hat sie Jay angefleht, sie gehen zu lassen!
Daher erstickt sie inzwischen jede neue Idee im Keim. Sie muss sich der Realität stellen. Träumen bringt nichts, besser sie gibt auf.
Der Raum ist kalt geworden, also erhebt Hannah sich langsam vom Bett, macht zwei Schritte und bückt sich, um die Heizung am Knauf aufzudrehen. Da sie schon steht, überprüft sie rasch die Binde, die sie in ihren Slip geklebt hat. Schließlich steigt sie zurück ins Bett, drückt den Teddy an sich und rutscht unter die Decke.
Jay hat versucht, es ihr halbwegs bequem zu machen. Saubere Socken und Unterwäsche. Eine weiche Decke. Zwei Extrakissen. Als ob diese kleinen Nettigkeiten auch nur zwei Sekunden von all dem, was ihr passiert ist, auslöschen könnten.
Trotzdem ist es besser, dass Jay auf sie aufpasst und nicht der andere Kerl. Einmal, als er sie zwei Tage hintereinander geschlagen hat, kam Jay mit Kühlpacks für ihre geschwollene Nase und die Lippe und Verbandszeug für ihre Hand- und Fußgelenke herunter und machte die ganze Zeit tröstende Geräusche, die sie an ihre Großmutter erinnerten.
Am nächsten Abend war der andere Typ wiedergekommen, hatte an die Tür gehämmert und gebrüllt: »Orca, bist du da, du Vollidiot?«
Jay war die Treppe raufgestürmt und hatte ihn angeschrien. »Du verdammtes Arschloch! Wie konntest du ihr so was antun?«
Und dann hatten die zwei gekämpft, so hatte es sich jedenfalls angehört. Nicht lange, vielleicht eine halbe Minute. Und als Jay dann wieder mit diesem blöden Betttuch nach unten gehumpelt kam, hatte auf seiner Stirn eine fette Schramme geprangt, die anschwoll.
Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Er hatte sie festgebunden, gemurmelt, dass es ihm leidtäte und dass es eine »totale Sauerei« sei, »dreimal hintereinander«.
Nun ist es zu warm in dem Raum. Hannah steht wieder auf, dreht die Heizung runter, kehrt zurück zum Bett und legt sich auf die rosafarbene Decke. Finster mustert sie die Poster von Justin Bieber und Lady Gaga, den Stapel blöder Zeitschriften. »Das ist doch so scheiße«, sagt sie und blickt in die schwarzen Augen ihres Stofftiers. »Es bleibt trotzdem ein Scheißkäfig.«
52. Kapitel
R eeve lässt den Blick über die leeren Fensteröffnungen der Hütte gleiten und hadert mit sich, ob es den Aufwand lohnt, auszusteigen, zu klopfen und nach dem Weg zu fragen, als die Eingangstür plötzlich einen Spalt aufgeht und der Umriss einer Person sichtbar wird.
In Reeves Nacken richten sich die Härchen auf.
Jetzt reiß dich mal zusammen.
Sie drückt auf die Taste, um das Fenster herunterzulassen, und kalte Luft strömt herein.
»Entschuldigung«, ruft sie und winkt. »Könnten Sie mir vielleicht …«
»Sie haben hier nichts zu suchen. Verschwinden Sie von meinem Grundstück!«, brüllt der Mann und tritt einen Schritt heraus.
»Aber ich wollte doch nur …«
»Ich warne Sie!« Schwungvoll hebt der Mann den Arm auf Augenhöhe, und Reeve sieht das unverkennbare Schimmern eines Gewehrlaufs. »Ich hab das Recht, mein Eigentum zu schützen! Also verschwinden Sie endlich.«
Sie tritt aufs Gas, schlägt das Steuer bis zum Anschlag ein, und der Jeep schleudert Kies auf, bevor er mit einem Satz von der Auffahrt schnellt
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