Und nie sollst du vergessen sein
die Einheimischen seien etwas mehr umeinander bemüht, als jemanden so lange mit seinem Schicksal alleine zu lassenâ, entgegnete Strittmatter.
âDas ist wohl so, wenn man keinen Mann und keine Kinder hat, ganz allein lebt und auf die Nachbarn angewiesen ist, die dann auch nachschauen müssen, wenn etwas nicht in Ordnung zu sein scheint. Das Opfer hatte nur eine Katze, die wir im Heizungskeller eingesperrt und völlig verstört vorgefunden haben. Auch an ihr haben wir keine brauchbaren Spuren sichern können. Aber eins dürfte klar sein, die Tote hat das Tier sicherlich nicht eingeschlossen. Dafür hat sie ihre Katze viel zu sehr geliebt, als dem Tier so etwas anzutun, sagt die Nachbarinâ, meinte Franz Stöckle, der noch einmal ins Badezimmer zurückgekehrt war, um seinen Technikkoffer zu holen.
âWarum ermordet jemand Menschen, die so normal sind wie du und ich, die anscheinend ihre Eigenarten haben, aber keiner Fliege etwas zuleide tun könnenâ, stellte Stefan Alt ungläubig als rhetorische Frage in den Raum. Denn die Antwort wusste er selbst, auch wenn â wie in einer Art Gedankenübertragung â Franz Stöckle für ihn antwortete: âWeil sie wohl einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren.â
âOder aberâ, ergänzte Karl Strittmatter, âweil sie etwas wussten, das ihnen zum Verhängnis wurde.â
neunundzwanzig
Emma erschrak fast, als sie auf die Uhr ihres Handys schaute. 9.45 Uhr zeigten die kleinen Zahlen in der rechten oberen Ecke an.
Mann, ich habe ja geschlafen wie ein Stein, dachte sie und räkelte sich noch einmal genüsslich in dem dicken Oberbett, das Roswitha Villinger passend für diese Jahreszeit mit einem Flanell-Bettbezug mit bedruckten Eiskristallen auf hellblauem Grund bezogen hatte.
Den Schlaf habe ich nach den vergangenen harten Monaten wohl gebraucht, dachte sie und versuchte, erst gar kein schlechtes Gewissen aufkommen zu lassen. Denn sie hatte heute ja noch einiges vor. Aber weder Maria Reisinger, die sich bisher leider noch nicht gemeldet hatte, noch Reinhold Nägele würden ihr weglaufen. Zumal ich ja weiÃ, wo ich die beiden finden kann, dachte sie und nahm sich vor, zuerst Maria Reisinger im Lädele einen Besuch abzustatten.
So schälte sie sich aus ihrem warmen Paradies, ging zum Fenster und zog die Rollläden hoch. Sanfte, fast schimmernde Sonnenstrahlen begrüÃten sie und sie freute sich auf den schönen Tag. Eigentlich stand heute ein Bummel in Waldshut auf dem Programm. Neue Schuhe und endlich mal einen eleganten Wintermantel wollte sie sich gönnen und sie wusste â wenigstens war das vor 15 Jahren noch so gewesen â, dass die Kreisstadt einige nette Boutiquen und Schuhgeschäfte auf der dortigen KaiserstraÃe und ihren abgehenden SeitenstraÃen zu bieten hatte.
Doch sie wusste auch, das alles würde hinten anstehen müssen. Zunächst musste sie endlich mehr über Charlottes ominöses Verschwinden und den damit möglicherweise zusammenhängenden Tod des alten Bauern herausfinden.
Nachdem sie sich angezogen hatte, verlieà Emma kurz vor elf Uhr ihre Ferienwohnung in Richtung Lädele. Sie war schon an der StraÃenkreuzung angekommen, an der der Witznauweg in den Rosenweg abging, als sie intuitiv nach Norden blickte und dem Verlauf des oberen Rosenweges folgte, an dem sich â wie sie gestern feststellen konnte â unter anderem auch Maria Reisingers Haus befand. Sie wollte ihren Augen nicht trauen, als sie genau in Höhe des Reisingerschen Anwesens zwei Polizeiwagen stehen sah.
Emma merkte, wie plötzlich ihre Hände feucht wurden und ein Schauer der Besorgnis ihren Körper durchfuhr. Sie schloss die Augen und versuchte, ruhig zu atmen, aber sie spürte, dass ihre innere Stimme, die trotz aller berechtigter Zweifel überzeugt davon war, dass wieder etwas Schreckliches passiert sein musste, mehr und mehr die Oberhand gewann.
Fast wie in Trance folgte sie dem Rosenweg und ihre Anspannung wuchs, je mehr sie sich Marias Haus näherte.
Sie bog gerade in die Hofeinfahrt ein, als eine Frau ihr fast in die Arme gelaufen wäre.
âKann ich Ihnen helfen?â, fragte Emma besorgt und war mehr als überrascht, dass es sich bei der Frau um Marias Nachbarin Silvia Trötschler handelte. Silvia Trötschler wirkte verwirrt und kopflos und schien völlig aufgelöst zu sein. Ob sie geweint hatte, konnte
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