Und nie sollst du vergessen sein
Tennisausrüstung und Ballettschuhe. Aber nein, es darf ja nichts weggeworfen oder im Internet verkauft werden, weil Charlotte ja eines Tages als verlorene Tochter mit wehenden Fahnen zurückkehren könnte und alles so weitergehen würde, als wäre nichts passiert, als hätte sich Charlotte nie für ein anderes Leben und gegen den Alten entschieden.â
Emma war geschockt. Noch vor wenigen Augenblicken hatte Gerald es nicht einmal geschafft, sie zu grüÃen, freundlich ins Haus zu bitten oder gar einige Sätze mit ihr zu wechseln. Und nun schüttete er ihr sein Herz aus, lieà seinem über so viele Jahre angestauten Frust freien Lauf und befreite sich und sein Gewissen. Obwohl, war es wirklich sein Gewissen? Viel eher hatte es den Anschein, als würde er seine Seele erleichtern und Emma damit indirekt um Absolution bitten. Aber Absolution für was? Dass er kein Musterbeispiel eines Bruders war? Dass er seine Schwester hasste wie nichts sonst auf der Welt? Dass â¦? Weiter kam Emma nicht, denn Gerald schien mit seinen Tiraden noch längst nicht am Ende zu sein.
âIch hatte nie eine Chance. Meine Eltern gaben mir immer das Gefühl, nicht wirklich etwas wert zu sein. Und dann immer diese Vergleiche. âGerald, schau, wie gut Charlotte schon laufen kannâ, âGerald, sieh nur, Charlotte hat wieder eine Eins mit nach Hause gebrachtâ, âGerald, warum interessierst du dich denn nicht für Musik und für die Kultur unserer Heimat, wie es Charlotte tut?â. Mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke.â Gerald Nägele schüttete sich erneut ein Glas Wasser ein.
âWie oft hätte ich den Alten für diese dummen Sprüche eins in die Fresse schlagen können. Immer und immer wieder. Was hätte das gut getan. Aber nein, selbst dazu war ich nicht imstande, zu schwach, wie es meine Mutter ihren Freundinnen immer erzählte, wenn sie mich beschrieb, oder einfach eine Luftpumpe, wie es mein Vater gerne so treffend am Stammtisch oder auf Familienfesten und am liebsten noch in meinem Beisein herumposaunte, damit ich ja auch nie vergesse, was für eine Lusche ich bin. Mann, was war der froh, noch ein Kind wie Charlotte zu haben. Nur leider wollte die nicht so, wie er es gerne wollte. Vor allem, als Mutter zu diesem Idioten von Lehrer nach Freiburg abgehauen ist, da hat er Charlotte regelrecht mit seiner Aufmerksamkeit erdrückt, mit seinem Ihr-ja-alles-recht-machen-wollen. Tja, aber als er eine Gegenleistung wollte, da hat sie ihm zu verstehen gegeben, dass er sich mal gernhaben kann und ist einfach abgehauen, so wie es meine ehrenwerte Mutter kein halbes Jahr zuvor auch schon getan hat.â
Emma saà geschockt und zu keiner einzigen Bewegung fähig auf dem Stuhl und konnte nicht glauben, was sie da hörte. Gerald hatte sich regelrecht in Rage geredet, ohne Punkt und Komma über seine Familie hergezogen, fast so, als wäre sie seine Therapeutin und könnte mit ihm gemeinsam eine Lösung für diese schier ausweglose Familienkonstellation erarbeiten. Gerald hatte sich mittlerweile mit seinem Glas und einer weiteren Flasche Mineralwasser zu ihr an den Tisch gesetzt und genoss scheinbar die gespannte Ruhe, die die sowieso schon einengende Küche noch ein Stück enger werden lieÃ.
âDa staunst du, was? Was für eine heile, wunderbare Familie, was für ein ehrenwerter Mann, der vom Schicksal auf so üble Weise heimgesucht wurde. Erst verlässt ihn seine Frau und dann auch noch seine Tochter. Nichts, aber auch gar nichts ist dem armen Mann geblieben.â
âAber, was ist, wenn deiner Schwester wirklich etwas passiert ist?â
âWas sollte ihr denn schon passiert sein?â
âVielleicht ist sie sogar tot ...â
âTot? Wie kommst du darauf?â
âFindest du es nicht merkwürdig, dass jemand ohne ein Wort des Abschieds für immer verschwindet?â
âWas weià ich.â
âWarum bist du eigentlich nie abgehauen? Allen Grund dazu hättest du ja gehabt ...â Emma merkte, dass sie nicht weiterkam. Daher wechselte sie das Thema, wenn auch nicht ganz. âDiesen Triumph wollte ich meinem Vater nicht gönnen. Er wäre doch glücklich, wenn ich endlich das Haus verlassen und nie mehr zurückkommen würde. Aber diesen Gefallen werde ich ihm nicht tun.â
âDu machst dich doch absolut abhängig â von einem Menschen, den du nur verachtest
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