Und nie sollst du vergessen sein
verpasstâ, antwortete der Mann, der schon dabei war, die Tür so abrupt zu schlieÃen, wie er sie 30 Sekunden zuvor aufgerissen hatte, als Emma zu ihrem letzten Versuch ansetzte: âGerald, wie geht es dir eigentlich?â
Wie vom Blitz getroffen hielt der Mann inne, öffnete die Tür erneut â wenn auch dieses Mal weniger ruckartig â und schaute Emma ungläubig an.
âWie soll es mir schon gehen?â
Emma, die gerade noch geglaubt hatte, endlich einen Zugang zu ihrem Gegenüber gefunden zu haben, resignierte bei diesen Worten und richtete sich schon mal auf einen mehr oder wenigen wortlosen Abschied ein, als Gerald fortfuhr: âWas soll ich jetzt darauf antworten? Auf eine Frage, die mir noch nie gestellt wurde.â
âIch glaube, ihr macht alle eine schwere Zeit durch, seitdem Charlotte verschwunden ist ...â
âPah, immer nur Charlotte. Wenn ich den Namen schon höre ...â
âSie ist deine Schwesterâ, empörte sich Emma und folgte Gerald durch die Eingangshalle ins Haus.
Zwei groÃe Kerzenleuchter mit künstlichem Licht ergänzten die vordergründig warme Atmosphäre, die bei Emma kein wirkliches Wohlbehagen auslöste. Gegenüber der Eingangstür ging rechts eine geschwungene Treppe in den ersten Stock hinauf, an die sich eine mondäne Galerie anschloss, die so gar nicht zu der Innenarchitektur eines urig-gemütlichen Schwarzwaldhauses passen wollte.
Irgendwie wirkt hier alles wie aufgesetzt, und man kommt sich vor wie in einem Museum, in dem man Angst haben muss, dass jeden Augenblick der Alarm ausgelöst wird, weil man sich einem Objekt zu sehr genähert hat, dachte Emma und wandte sich wieder Gerald Nägele zu.
âMachst du dir denn keine Sorgen, was mit Charlotte geschehen ist?â
âUnd wenn schon. Was habe ich davon. Hat sie sich jemals um mich gekümmert?â Gerald Nägele war mittlerweile in die Küche gegangen und hatte sich ein Glas Mineralwasser eingeschenkt. Emma war ihm auch hierhin unaufgefordert gefolgt und setzte sich auf einen Stuhl. Während der lichtdurchflutete Flur, den Emma eher als Wandelhalle bezeichnet hätte, einen übermächtigen, den Besucher mit seinen AusmaÃen fast schon erschlagenden Charakter hatte, war die Küche eher gedrungen, fast schon klein, und wirkte mit ihren gerahmten Fenstern und dem dunklen Holz eher erdrückend und düster als einladend und heimelig.
âSie hat immer nur Gutes über dich erzähltâ, erwiderte Emma, die krampfhaft überlegte, welche Worte Charlotte damals wirklich über ihren Bruder gefunden hatte. Doch ihr wollte partout nichts einfallen, egal, an welches private Gespräch sie sich auch zurückerinnerte. Hatte Charlotte ihren Bruder vielleicht doch nicht gemocht oder warum hatte sie nie etwas über Gerald gesagt? War er ihr als pubertierender Teenager, da zwei Jahre älter, einfach nicht interessant genug gewesen? Oder war er ihr gar gleichgültig gewesen, weil sie nie wirklich eine Beziehung zu ihm aufbauen konnte oder wollte?
âDu lügst. Und du weiÃt esâ, sagte Gerald gefühllos und leerte sein Glas in einem Zug. âAber nun hat sich ja alles von selbst erledigt. Die Gerechtigkeit siegt immer. Auch wenn sie manchmal etwas länger braucht: Jeder bekommt das, was er verdient.â
âWas soll das heiÃen? Du glaubst also auch, dass sie tot ist?â Emma spürte ein flaues Magengefühl und sie hoffte, es lag an dem immer stärker werdenden Hungergefühl â hatte sie doch immer noch nichts gegessen â und nicht an der im Raum stehenden Option, dass Charlotte nicht mehr am Leben war.
âMir egal. Sie ist nicht mehr da und das ist das Einzige, was zählt.â
âDu vermisst sie also gar nicht?â
âNein, wieso sollte ich. Für Charlotte gab es immer nur Charlotte. Charlotte hier, Charlotte da, Charlotte überall. Was haben sich meine Eltern ins Zeug gelegt, nur um meiner ach so geliebten Schwester alles recht zu machen. Sie haben ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen, nur um sie glücklich zu machen, ihre Gier nach immer mehr zu befriedigen. Es gab nichts, was Charlotte jemals verwehrt wurde. Jedes Spielzeug, jedes Hobby, jede Spinnerei â egal wie teuer â hat sie bekommen, selbst wenn sie bereits nach kurzer Zeit keine Lust mehr darauf hatte. Der Keller ist voll von diesem Kram: Sättel und Saxophon,
Weitere Kostenlose Bücher