Und nie sollst du vergessen sein
Kindergarten und weiter zum kleinen Friedhof an der südlichen Seite der St.-Stephans-Kirche führte, als ihr Mobiltelefon klingelte.
âAuch das nochâ, fluchte sie, als sie die Nummer ihrer Mutter im Display las. Trotzdem nahm sie den Anruf an.
âHallo Emma. Schön, dich zu hören. Bist du gut angekommen?â, fragte Marit Hansen mit gewohnt schwacher, fast schon wehleidiger Stimme. Emma war den kleinen Weg zur Kirche hochgespurtet und presste sich, so gut es ging, an die Tür des Seiteneingangs von St. Stephan, die ihr mit ihrem vorstehenden Dach wenigstens etwas Schutz vor dem peitschenden Regen bieten konnte.
âHallo Mama. Ja, bin ich. Du hörst dich aber gar nicht gut an ...â Emma wusste, dass es ihrer Mutter nicht gut ging. Seit ihr Vater ihre Mutter verlassen hatte, hatte diese keinen echten Lebenswillen mehr. Sie hatte sich längst aufgeben. Und so hatte es sich Emma zu ihrer persönlichen Aufgabe gemacht, ihre Mutter aufzubauen und zu unterstützen, wo immer es ging. Doch Marit Hansen war ein besonders hartnäckiger Fall, und manchmal fragte Emma sich, ob es ihre Mutter nicht sogar liebte, einfach nur zu leiden. Denn sie war weder zu einer die Trennung und die erlittenen Verletzungen aufarbeitenden Therapie bereit gewesen, noch hatte sie Lust auf eine Ablenkung, die ein neues Hobby, eine längere Urlaubsreise oder ein neuer Mann hätte bieten können.
âMir geht es ja auch nicht gut ...â, hörte Emma ihre Mutter resignierend antworten.
âMama, so gern ich dir jetzt helfen würde, aber ich bin nicht zu Hause. Wie du weiÃt, habe ich mir ein paar Tage freigenommen, um ...â
âDavon hast du mir ja gar nichts erzähltâ, erwiderte ihre Mutter und Emma musste â einem Automatismus folgend â ihre Augen verdrehen, so oft hatte sie ihrer Mutter von ihrem geplanten Kurzurlaub bei Villingers in Nöggenschwiel erzählt. Sie hatte sich sogar von ihrem Gewissen verleiten lassen, ihre Mutter zu fragen, ob sie mitkommen wolle. Doch Marit Hansen war zu antriebslos gewesen, diesem Angebot auch nur irgendetwas abgewinnen zu können. Vielmehr kamen ganz neue Probleme damit auf sie zu, da sie weder wusste, was sie mitnehmen oder anziehen, noch was sie den ganzen Tag in diesem verschlafenen Ort mit sich anfangen sollte.
âDoch, dass habe ich. Aber das ist ja jetzt nun auch egal. Auf jeden Fall habe ich gerade nicht viel Zeit ...
âDas war ja wieder klar, das du keine Zeit hastâ, unterbrach Marit Hansen ihre Tochter, und Emma merkte, dass ihre Mutter bereits mit den Tränen kämpfte und um jedes klar und deutlich ausgesprochene Wort rang. âJetzt brauche ich einmal deine Hilfe und schon ziehst du dich zurück und willst nicht mit mir reden. Dabei wollte ich dir nur sagen, dass du ein Geschwisterchen bekommstâ, sagte sie und fing gleichzeitig fürchterlich an zu schluchzen. Aus dem Schluchzen wurde ein Weinen, das Emma förmlich das Herz zerriss.
Das plötzliche und unvermittelte Freizeichen war schon fast ein beruhigendes Geräusch, das sie vollkommen nichtsahnend plötzlich aus ihrem Mobiltelefon vernahm.
Emma wusste, dass ihre Mutter sich als groÃe Verliererin fühlte. Als Marit Hansen kurz nach Emmas Geburt noch ein drittes Kind hatte bekommen wollen, da wollte Emmas Vater keines mehr und drohte mit Scheidung, würde Marit ihm eines unterjubeln. Aber dann, als es biologisch für sie zu spät war und er noch einmal das Gefühl verspürte, seine Gene weiter geben zu müssen, da suchte er sich eine junge Frau und Mutter für sein Kind. Denn sie kam dafür ja nicht mehr infrage. Es war die Kapitulation vor der Natur und die Ungerechtigkeit, die Marit Hansen so ohnmächtig machte und die ihr den Boden unter den FüÃen wegzog. Nicht langsam, gleichmäÃig und mit sich daran gewöhnendem Charakter, sondern ruckartig, schnell und einen so aus der Balance bringend, dass sie völlig den Halt im Leben verloren hatte.
Emma lehnte sich gegen die Holztür, schloss die Augen und hörte dem Prasseln des Regens zu.
Ein beruhigendes Gefühl. Wären doch bloà auch ihr Leben und damit die Beziehung zu ihrer Mutter so angenehm entspannt. Aber nein, damit darf und kann ich mich jetzt nicht auch noch beschäftigen, dachte sie, während sich ihr Hals langsam zuzog und sie merkte, wie sie verkrampfte, während es in ihr anfing zu brodeln. Und doch war sie
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