Und nie sollst du vergessen sein
geübt darin, alle Emotionen und Gefühlsregungen, die ihre Mutter betrafen, nicht näher an sich herankommen zu lassen.
Sie zu verdrängen.
Sich vor ihnen zu schützen.
Ich brauche jetzt etwas für meine Nerven, dachte Emma und lief über den Kiesweg in Richtung Lädele. Denn Kekse waren neben einer heiÃen Tasse Schokolade die beste Beruhigung für angespannte Nerven. Und intuitiv musste sie wieder an ihren Opa denken, der gerade aus diesem Grund immer eine Pakkung Doppeldeckerkekse mit Schokoladenfüllung in seiner Tasche gehabt hatte.
Sie war bereits nass bis auf die Knochen und doch fühlte sie sich auf einmal nicht mehr so allein in ihrer Welt, die gerade nur aus dem Leid, dem Schmerz und der Trauer ihrer Mutter über das freudige Erwarten ihres Vaters bestand. Doch das Schlimmste war, so musste sich Emma eingestehen, dass sie ihrer Mutter nie würde helfen können, so sehr sie es auch wollte.
Was für ein Mist, dachte Emma, die den Gedanken gleich noch einmal wiederholen konnte, als sie die schwarze Schrift auf dem weiÃen Blatt las, das notdürftig mit einem Streifen Tesafilm an der Tür festgeklebt war: âWegen eines unerwarteten Trauerfalls bleibt das Lädele heute geschlossen.â
âTja, wer jetzt etwas braucht, hat Pech gehabt.â
Emma erschrak, als sie plötzlich und nichtsahnend eine Stimme hinter sich vernahm.
Als sie sich umdrehte, schaute sie einem attraktiven Mann in die Augen. Er war etwa 1,85 Meter groÃ, hatte eine mehr als sportliche Figur, einen modischen Haarschnitt und trug einen braunen Mantel über einem lässig geöffneten Sakko, dazu eine schwarze Jeans und elegante Halbschuhe. In der Hand hielt er einen ebenfalls schwarzen Regenschirm, unter dem locker eine siebenköpfige Familie Schutz gefunden hätte.
Hätte er keine Ohren, könnte er im Kreis grinsen, dachte Emma, als sie das breite Lächeln des Mannes sah, der sie mit sympathisch dreinblickenden und überaus wachen Augen anschaute.
âSo sieht es wohl leider ausâ, erwiderte Emma und lächelte vielsagend zurück.
âDas ging mir auch so, keine 60 Sekunden zuvor.â Er sprach in einem angenehmen Schwyzerdütsch, das sie schon vor 15 Jahren, als ein Beamter der schweizerischen Zollbehörde sie und ihre Eltern an der Grenze nach den Pässen gefragt hatte, als sehr wohlklingend empfunden hatte.
âWas brauchen Sie denn? Vielleicht kann ich Ihnen ja etwas aus der Stadt mitbringen.â
âDas ist wirklich sehr freundlich. Aber ich brauchte jetzt sofort einfach nur eine Packung Kekse. Ich denke, bis Sie wieder hier oben sind, haben sich meine Nerven schon von selbst wieder beruhigtâ, sagte Emma und fing an zu lachen.
âDa haben dann Ihre Nerven jetzt Pech gehabt.â Und nun war es der Mann, der herzlich lachte.
Selten habe ich jemanden so sexy lachen sehen, dachte Emma, die sich nicht an den freundlichen Grübchen in den Mundwinkeln ihres Gegenübers sattsehen konnte.
âSie wohnen wohl noch nicht so lange hier?â, fragte er nun höflich und holte sie damit aus ihren Schwärmereien.
âOh, ich wohne gar nicht hier.â Emma schaute ihn mit groÃen Augen an und wunderte sich über den groÃen Gedankensprung.
Er spielte erneut mit seinem Lachen. Dabei kamen seine strahlend weiÃen Zähne zum Vorschein, die von guten Genen und noch besserer Pflege zeugten. âIch habe Sie hier nämlich noch nie gesehen. Und auch Ihr Dialekt scheint keiner der Region zu sein.â
âJa, ich habe dänische Vorfahren, bin aber in Ludwigshafen zur Welt gekommen. Da meine Eltern versucht haben, uns zweisprachig zu erziehen, setze ich manche Betonungen anders.â Als sie die letzte Treppenstufe des Lädeles herunterging, erwischte sie ein derart heftiger WindstoÃ, dass sie fast das Gleichgewicht verloren hätte und ausgerutscht wäre, hätte der Mann nicht blitzschnell reagiert und sie aufgefangen. âHoppla, der Wind hat es aber in sich.â
âDankeâ, stammelte sie ein wenig verlegen. So etwas war ihr noch nie passiert. Dass es dann gleich bei einem solchen Mann wie ihm geschehen musste, war ihr fast schon ein wenig unangenehm, und doch genoss sie es, sich in seine starken Arme fallen zu lassen.
âIm Moment mache ich hier Urlaub.â
âHier?â, fragte er und musste dabei erneut laut lachen.
âTja. Jeder definiert Urlaub, Erholung und
Weitere Kostenlose Bücher