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Und nie sollst du vergessen sein

Und nie sollst du vergessen sein

Titel: Und nie sollst du vergessen sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Boehm
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schweren Kopf aufrichtete. Es war kurz vor 10 Uhr, und doch fühlte sie sich ausgelaugt und wie erschlagen. Ein Gefühl, das sie selbst von ihren härtesten Nebenjob-Zeiten her, als sie für eine Bäckerei als Auslieferin arbeitete und daher um 4 Uhr aufstehen musste, nicht kannte.
    In der Ferienwohnung nebenan konnte sie das Ehepaar hören, das laut Autokennzeichen aus Dortmund kam. Auch wenn sie die Worte nicht genau verstehen konnte, so konnte sie doch erahnen, dass die beiden heftig miteinander diskutierten.
    Wie gerne hätte sie jemanden an ihrer Seite gehabt, mit dem sie sich mal streiten könnte, um sich dann wieder zu versöhnen. Mit dem sie heulen und lachen, gemeinsam kochen und essen, Fernsehen schauen und kuscheln könnte. Einen Mann, der sie auf Händen tragen würde, an dessen starker Schulter sie sich anlehnen könnte. Einen Menschen, der sie verstand, der wusste, wie sie tickte, der sie so nahm, wie sie war. Der ihr einen niedlich-kitschigen Kosenamen gab, ihr Liebesbotschaften auf Post-it-Aufklebern schrieb, bevor er morgens ins Büro eilte, und der ihr jeden Tag aufs Neue zeigte, was sie ihm bedeutete.
    Was mache ich nur falsch, dachte sie. Was ist der Grund für mein Alleinsein?
    Mit einem tiefen Seufzer drückte sie ihren hämmernden Kopf in ein Kissen. Sie versuchte, ein wenig zu träumen, in eine Welt zu fliehen, in der sie alles hatte, was sie glücklich machen würde. Ein Leben, in dem es ihr an nichts fehlte. In dem sie die Macht hatte wie die Herzkönigin bei Alice im Wunderland, mit der Güte einer Mutter Theresa und dem Wesen eines Engels.
    Beseelt von diesem Gedanken zog sie sich an, legte leichtes Rouge auf, benutzte zum ersten Mal den neuen Lipgloss in einem sanften Terrakottaton und streifte ihren Lieblingspulli über, ehe sie in ihre schwarzen Stiefeletten schlüpfte.
    Es war Zeit, diesen wunderschönen Tag zu begrüßen, dachte sie und konzentrierte sich auf ihren Kopf. Er fühlte sich noch etwas matschig an und so versuchte sie, mit der ihr tief verwurzelten Lebensfreude mental gegen den Lärm in ihrem Kopf anzugehen.
    Als Emma vor die Tür des Villingerschen Anwesens trat, musste sie kräftig die Augen zusammenkneifen, so sehr blendete sie das Licht der auf den weißen Schneeflächen reflektierten Sonnenstrahlen. Ein strahlend blauer Himmel, eingerahmt von einigen wenigen Schleierwolken, erinnerte mehr an einen Tag Anfang Mai denn an einen Tag Ende November. Die Sonne tat noch einmal alles, um sich von ihrer schönsten Seite zu präsentieren und den Menschen Hoffnung und Frohsinn in einer sonst trüben, dunklen und melancholischen Zeit zu geben.
    Ausgelöst durch die Schneeschmelze lösten sich kleine Lawinen vom Dach der alten Scheune, während sich die Äste eines Ginsterbusches freudig aufrichteten, nachdem auch sie sich von der schweren weißen Last befreit hatten. So taten es auch die großen Fichten, die das Kirchenschiff von St. Stephan umsäumten und dem Gotteshaus diesen würdevollen, wenn nicht sogar majestätischen Rahmen gaben.
    Die Kinder im Gemeindekindergarten bastelten, als Emma in die Fenster hineinlugte, während sie bedächtig den schmalen Weg zur Kirche entlangschlenderte. Die Gräber der Geistlichen, die in Nöggenschwiel und den Nachbargemeinden gewirkt hatten, waren noch vom Schnee bedeckt. Einzig ein Gesteck mit Tannenzweigen, Heidekraut und einer kleinen Friedhofskerze hatte der Schnee verschont, und so vermutete Emma, dass es erst vor Kurzem im Gedenken an die Würdenträger der Kirche hier hingestellt worden sein musste.
    Auf dem Rathausplatz war niemand zu sehen. Auch im Lädele brannte kein Licht. Der Schock sitzt wohl immer noch sehr tief, dachte Emma. Sie erschrak, als die Glocken von St. Stephan zu schlagen begannen. Zwölfmal. Dann war wieder alles still.
    Wie doch die Zeit dahinrast, sinnierte Emma und schloss für einen Moment die Augen. Sie hörte in die Stille hinein. Es war eine unangenehme Stille. Voller Einsamkeit. Voller Trauer. Es war eine Stille, die sie vernommen hatte, als ihre geliebte Oma Lena plötzlich und für alle so unverhofft gestorben war. Es war eine Welt, die für Emma zusammenbrach, als ihr bewusst wurde, dass ihr der am nächsten stehende Mensch genommen wurde. Ihre Ratgeberin. Ihre Vertrauensperson. Ihre Seelentrösterin. Geboren und in Dänemark aufgewachsen hatte Emmas Großmutter ihr gesamtes Leben

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