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Und nie sollst du vergessen sein

Und nie sollst du vergessen sein

Titel: Und nie sollst du vergessen sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Boehm
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im Königreich der „Kleinen Meerjungfrau“ verbracht. Dort war sie auch gestorben und beerdigt worden. Da es Emma nicht möglich war, regelmäßig die letzte Ruhestätte ihrer Oma auf Bornholm zu besuchen, hatte sie mit der Gärtnerei in Rönne einen Vertrag geschlossen, der beinhaltete, das an jedem 8. eines Monats – an einem 8. Juni war ihre Großmama vor sieben Jahren entschlafen – eine Vase mit 25 gelben Rosen auf das Grab gestellt werden sollte. Das, da war sich Emma sicher, war das Mindeste, was sie für ihre Oma tun konnte, wenn nicht sogar musste, waren es doch gelbe Rosen, die Lena über alles geliebt hatte. Auch der Friedhof, auf der Nordseite der Kirche gelegen, lag still vor ihr. Immer wieder wechselten sich das Grau und Schwarz der Grabsteine mit dem reinen Weiß des Schnees ab. Nur das Grün von Pflanzen und Gestecken störte diese Harmonie. Hin und wieder flackerte eine schwache Flamme hinter einem verglasten Grablicht. Es war ein ausgesprochen schön angelegter Friedhof. Und dennoch spürte Emma diese besondere Sprachlosigkeit, die der Tod in der Welt der Lebenden hinterließ. Mit einem Mal erinnerte sie sich an die Worte ihrer Oma: Die Gräber sagen viel über die Menschen aus, die in ihnen liegen. Ein Ausspruch, der besonders auf dem Land zum Tragen kam. Während in den Großstädten oftmals die Anonymität die Toten bald in Vergessenheit geraten ließ, pflegten in den Dörfern und kleinen Ortschaften die Menschen einen regelrechten Totenkult. Schließlich waren die meisten irgendwie über mehrere Ecken miteinander verwandt oder man kannte sich seit Jahrzehnten, woraus wiederum eine Verpflichtung der Verstorbenen gegenüber erwuchs, sich nicht nur um die Pflege des Grabes zu kümmern, sondern ihrer auch zu gedenken und in regelmäßigen Abständen die letzte Ruhestätte zu besuchen.
    Andächtig ging sie durch die Reihen, in denen auch jetzt noch der Schnee den Kies bedeckte. Manche Gräber waren nahezu komplett mit einer Marmorplatte abgedeckt. Nur ein kleines Stück war für die Bepflanzung von Lilien, Chrysanthemen und Bodendecker freigelassen worden. Andere Gräber wiederum besaßen stilvoll verzierte Kreuze und Mahnmale, auf denen in aufwendiger Handarbeit Namen und Lebensdaten eingemeißelt worden waren. Manche waren sogar mit einem Schutzheiligen oder ergreifenden Inschriften versehen. Die Grabflächen selbst hatten meist eine üppige Begrünung. Heidekraut war der häufigste Vertreter der Winterbepflanzung, und Emma musste ans Grab ihrer Oma denken, das zweimal im Jahr völlig neu bepflanzt wurde.
    Wie grausam doch der Tod ist, sinnierte sie, als sie die Lebensdaten einer jungen Frau las und schockiert feststellen musste, dass sie nicht einmal Emmas Alter erreicht hatte. Wie bitter musste es für die Eltern gewesen sein, ihr geliebtes Kind zu Grabe zu tragen, dachte sie. All die Hoffnungen, die Wünsche, die Träume, die man in das Kind investiert hatte, wurden einem von jetzt auf gleich genommen. Und mit ihr all die Liebe. Emma musste schlucken, als sie darüber nachdachte.
    Manche Eltern merken erst dann, was ihnen ihr Kind bedeutet hat. Was für ein besonderer, weil einzigartiger und liebenswerter Mensch es war. Und welche Lücke es hinterlässt. Doch dann ist es zu spät.
    Sie musste plötzlich an ihre Eltern denken. Würden sie um Emma trauern, sich vor Sehnsucht verzehren?
    Sie wollte gerade umkehren, als sie am hinteren Ende des Friedhofs einen Mann sah. Groß gewachsen und in einen schwarzen Mantel gekleidet beugte er sich über ein mit Heidekraut über und über bedecktes Grab. Vorsichtig ging sie näher hin und nach wenigen Schritten erkannte sie ihn. Es war der Unbekannte, dem sie gestern vor dem Lädele begegnet war.
    â€žMan sieht sich wohl immer zweimal im Leben.“ Emma grinste. Die Trostlosigkeit des Ortes und mit ihr die Endlichkeit des Lebens, die zuvor noch ihre Gedanken getrübt hatten, waren der unverkennbaren Freude des Wiedersehens gewichen. Der Mann blickte sich um und lächelte, als er Emma wiedererkannte.
    â€žWir hätten uns nur einen schöneren Ort aussuchen sollen. Ich bin übrigens René, René Lusser.“
    â€žIch weiß, wer du bist. Ich heiße Emma“, sagte Emma und lächelte ihn an.
    Er nickte, ehe er sich wieder in Richtung Grab drehte, einen Strauß Rosen aus einer transparenten Folie

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