Und Nietzsche lachte
das Zeug und Potenzial hatte, ihn am Leben zu halten – nicht mehr und nicht weniger.
Was aber nicht heißt, dass die genannten drei Typen der Sinnerwartung oder Sinnsuche falsch oder unsinnig wären. Anders als Nietzsche – wie wir gleich sehen werden – glaube ich das nicht. Im Gegenteil: Sie sind durchaus hilfreich, wenn es darum geht, sich selbst besser zu verstehen – sich selbst zu verorten oder Orientierung fürs eigene Leben zu gewinnen. So ist es sicher nicht vergebens, sich darum zu bemühen, im moralischen Sinne ein guter Mensch zu sein. Es ist auch gewiss nicht unnütz, wenn man die Bereitschaft aufbringt, sich bestimmten Zwecken und Zielen zu unterwerfen. Ebenso kann die Frage nach der individuellen Bestimmung die eigene Persönlichkeitsentfaltung beflügeln. So gesehen will ich das alles nicht schlechtreden. Und wenn Sie an einen Schöpfergott glauben, der Ihrem Leben eine bestimmte Bedeutung eingeschrieben hat, dann will ich Ihnen den Glauben nicht nehmen. Wer weiß, vielleicht ist es ja wirklich so.
Meine einzige Sorge ist, dass diese Modelle von Sinnstiftung und Sinnvermittlung in ihrer Reichweite beschränkt sind; und deshalb Gefahr laufen, uns in den entscheidenden Momenten des Lebens im Stich zu lassen. Ja, ich fürchte, dass in Situationen radikalen Zweifels, tiefgreifender Krisen oder ultimativer Sinnlosigkeit (wie Viktor Frankl sie im KZ ertragen musste) Fragen aufsteigen könnten wie: Und was, wenn es keinen Gott gibt? Was, wenn er mir keine Bedeutung gegeben hat? Oder: War es denn wirklich sinnvoll, das größte Glück für die größte Menge anzustreben? Lag der Sinn dieses Lebens wirklich in ease, comfort and security ? Oder: War es wirklich sinnvoll, immer vernünftig zu sein? Wäre es nicht sinnvoller gewesen, meinen Emotionen und Instinkten zu folgen? Ich fürchte, solche Fragen könnten den Boden unter unseren Füßen ins Wanken bringen. Dann drohten Verzweiflung und Resignation, Sinnfinsternis und existenzielles Vakuum.
Deshalb möchte ich mit Ihnen weitersuchen und mich in aller Wertschätzung für die klassischen Sinnfindungsstrategien nun dem vierten, eingangs angesprochenen Modell der Sinnsuche zuwenden, das ich bislang unterschlagen habe. Es geht zurück auf den Denker, den wir bereits mehrfach lachen hörten: Nietzsche. Denn Nietzsche fand all das, was ich Ihnen bisher vorgestellt habe, fürchterlich. All das war ihm Gift und Lüge und Heuchelei. Weil aber auch er nicht darauf verzichten wollte, eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn zu finden, nahm er die ungeheuerliche Aufgabe auf sich, erst seinen philosophischen Hammer kreisen zu lassen und all diese alten Gespenster zu zerschlagen, um dann darzulegen, wie seiner Ansicht nach der Sinn in die Welt gekommen ist – und immer aufs Neue kommen wird: durch unseren Willen zur Macht!
Zweites Zwischenspiel im Himmel
Kaum dass Nietzsche sein »Was gehen mich noch Götter an!« in die unendlichen Weiten des ortlosen Ortes hinausgebrüllt hatte, da erschienen sie vor ihm. Ein glänzender Anblick, der ihm fast die Sinne geraubt hätte. Kant neben ihm erschrak und schien zur Salzsäule erstarrt. Gesenkten Hauptes blickte er auf den Boden. Nietzsche blieb dieser Ausweg verwehrt, denn mit elegantem Schwung trat ein junger und dynamischer Herr in einem eleganten Boss-Anzug auf ihn zu, reichte ihm die Hand und sagte mit jovialer Stimme und lächelnden Auges: »Herr Nietzsche?«
»Ja«, stammelte der solcherart Angesprochene, »habe die Ehre.«
»Ganz meinerseits, ganz meinerseits«, erwiderte der sehr geschäftsmäßig wirkende Herr. »Darf ich Ihnen meine Kollegen vorstellen. Hier, zu meiner Rechten, Apollon, Gott der Ordnung, Heilkunst, Musik, des Schönen und Guten und so weiter.«
Kant versuchte den Blick zu heben, kam aber nicht höher als bis zu den nackten Knien des Gottes, denn er fürchtete, dass dieser komplett unbekleidet sein würde, was ihm die Schamesröte ins Gesicht steigen ließ. Nietzsche war mutiger. Auch er scheute den Blick auf die Taille des Gottes, doch schaute er ihm in die strahlenden Augen, fühlte sich aber augenblicklich unbehaglich, weil aus der tiefsten Tiefe seines Herzens eine Stimme zu ihm flüsterte: »Fritzle, du musst dein Leben ändern.«
So war er erleichtert, dass der Anzugträger ihn erlöste, indem er seinen Blick zu einem anderen Herrn lenkte. »Dionysos«, sagte er, »Gott des Rausches, der Auflösung, des Chaos, der Orgien, des Weins und was sonst noch so dazugehört«, fügte er mit
Weitere Kostenlose Bücher