Und Nietzsche lachte
dämmerte mir, dass alles, was die Philosophen als Wahrheit, als Werte, als Moral gepriesen hatten, nichts anderes war, als das Werk ihres Willens zur Macht. Es gibt Moralen, welche ihren Urheber vor Anderen rechtfertigen sollen; andere Moralen sollen ihn beruhigen und mit sich zufrieden stimmen; diese Moral dient ihrem Urheber, um zu vergessen; jene, um sich oder etwas von sich vergessen zu machen; und mancher Moralist möchte an der Menschheit Macht und schöpferische Laune ausüben – gleichviel, immer dient die Moral ihrem Schöpfer dazu, sich selbst zu rechtfertigen. Dafür wurde sie geschaffen, und dafür log und bog sich der Mensch seine Werte zurecht.«
»Verstehe«, brummte Hermes erneut.
»Nehmen wir nur das Christentum«, fuhr Nietzsche, nun immer kühner werdend, fort, »es waren Sklaven und Unfreie, Leidende und Unterdrückte, die sich ihm anschlossen, um auf diese Weise an Rom und seiner vornehmen und frivolen Toleranz Rache zu nehmen. Deshalb propagierten sie eine Umwertung aller antiken Werte. Ich dachte: ›Gesetzt, dass die Vergewaltigten, Gedrückten, Leidenden, Unfreien, Ihrer-selbst-Ungewissen und Müden moralisieren: Was wird das Gleichartige ihrer moralischen Wertschätzungen sein?‹ Wahrscheinlich wird ein pessimistischer Argwohn gegen die ganze Lage des Menschen zum Ausdruck kommen, vielleicht eine Verurteilung des Menschen mitsamt seiner Lage. Nun werden die Eigenschaften hervorgezogen und mit Licht übergossen, welche dazu dienen, Leidenden das Dasein zu erleichtern: Hier kommt das Mitleiden, die gefällige hilfsbereite Hand, das warme Herz, die Geduld, der Fleiß, die Demut, die Freundlichkeit zu Ehren –, denn das sind die nützlichsten Eigenschaften und beinahe die einzigen Mittel, den Druck des Daseins auszuhalten. So verriet sich mir der Wille zur Macht selbst da noch, wo er sich hinter den Masken der Frommen und Mitleidigen versteckt hatte. Und mich dünkte, dass es keine Moral und keine Wahrheit und keine Werte gibt, die nicht Menschenwerk und die Maske seines Willens sind.«
»Weiter.« Hermes schien wirklich interessiert.
»Und also schloss ich: Schaffen – das ist die große Erlösung vom Leiden und des Lebens Leichtwerden. Wollen befreit, und also ehre ich meinen schaffenden Willen. Neue Werte zu schaffen, das ist’s, was ich darum die Menschen lehrte. Werte, die nicht grausam sind gegen das Leben, so wie es die Werte des Christentums waren. Werte, die nicht aus Müdigkeit und Überdruss am Leben geschaffen wurden, sondern aus Übermut und Schöpferfreude. Über sich hinaus zu schaffen, hieß ich die Menschen. Sich selbst zu überwinden, hielt ich sie an. Daher lehrte ich sie den Übermenschen. ›Der Übermensch ist der Sinn der Erde‹, rief ich ihnen zu. Und: ›Euer Wille sage: Der Übermensch sei der Sinn der Erde!‹ Euer Wille zur Macht mache den Übermenschen zum Sinn der Erde. Denn woher sonst sollte ein Sinn sich zeigen, da doch Gott tot und die Hinterwelten zertrümmert sind?« Dann schwieg Nietzsche, und Stille erfüllte den ortlosen Ort.
Schließlich räusperte sich Hermes: »Wohlan, mein Freund«, sprach er, »es ist wohl wahr: Du bist dem Leben ins Herz gekrochen. Aber mit verschattetem Blick. Nein, wahrlich, du sahst dort nur, was du sehen konntest – oder von mir aus«, und dabei zwinkerte er Nietzsche zu, »was du sehen wolltest . Erinnere dich: Wen erblicktest du im Herz des Lebens? Meinen Bruder Ares sahst du dort. Denn wahrlich: Der kennt sich aus mit Dienen und Befehlen. Der hat Spaß an Kampf und Streit. Der freut sich am Willen zur Macht. Und meiner Schwester Athena hast du auf ihren schönen Hintern geschaut, hm?«, grinste er Nietzsche an. »Ja, die versteht sich aufs Machen – auch von Werten, auch von Wahrheit, ja, ja, das kann sie wie keine andere. Den da«, und dabei zeigte er auf Dionysos, »hast du auch gesehen, und wir Himmlischen sind uns darüber einig, dass du dir einige Verdienste damit erworben hast, ihn wieder zu Ehren zu bringen. Naja, und mich hast du wohl auch gesehen – mich, den Flinken, den Schnellen, den Leichtfuß –, den Herrn all derer, die es gern bequem und leicht haben; mich, der Freude an kühnen Geschäften und munteren Machtspielen hat. Aber«, er neigte sich zu Apollon, »diesen da, Freundchen, den hast du dir nicht gut genug angeschaut. Der hat noch ein Hühnchen mit dir zu rupfen. Das war ein Fehler, das kannst du mir wohl glauben. Denn vor ihm erheben sich selbst Götter, wenn er in ihre Mitte tritt. Und
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