Und Nietzsche lachte
– dass es vortrefflich ist, bedeutet tatsächlich, das für dieses »Etwas« einzige, objektive und absolute Maß zu treffen. Deshalb ist Apoll ein autoritativer Gott. Ihm eignet die unbedingte Autorität des Trefflichen, die jeder kennt, der je kreativ tätig war. Wer ein Bild malt, erprobt so lange die Zusammenstellung seiner Farben, bis ES STIMMT. Er muss dieses ES STIMMT herausfinden. Er macht es nicht selbst, sondern es kommt von irgendwoher auf ihn zu – so wie Apollon von irgendwoher kommt. Wer eine Musik komponiert, erprobt so lang die Komposition seiner Akkorde, bis ES STIMMT. Wer einen Menschen heilen will, erprobt so lange seine Medikamente und Anwendungen, bis das Gleichgewicht seines Patienten wieder hergestellt ist und ES STIMMT. Jede Kunst und Kunstfertigkeit steht unter diesem absoluten und autoritativen Anspruch. Das ES STIMMT ist das Treffliche, das Maßgebliche.
Genau mit diesem Anspruch spricht Apoll zu den Menschen. Weil sein Werk das Stimmen ist, zeigt er sich immer dort, wo Vieles zu Ganzem gefügt sein will: In der Heilkunst trägt er Sorge dafür, dass die mannigfaltigen Organe, Funktionen und Energien des Körpers so ineinandergreifen, dass ES STIMMT – was wir dann Gesundheit nennen oder Heilung. In der Musik trägt er Sorge dafür, dass die mannigfachen Töne, Instrumente und Klänge sich so zueinander fügen, dass Harmonie und Resonanz dabei entstehen. In der Politik trägt er Sorge dafür, dass die vielen Bürger eines Gemeinwesens so miteinander interagieren, dass ihre Gemeinschaft in Balance bleibt – was wir dann Gerechtigkeit nennen. Immer ist er derjenige, der in Ordnung bringt. Immer ist er derjenige, der den Vielen den Ort weist, so dass ein Ganzes entsteht. Und immer strahlt sein Glanz in der Welt, wo etwas in vollkommener Harmonie, Balance und Ordnung, in perfektem Gleichgewicht erscheint: so, dass man es ohne Wenn und Aber bejahen und gutheißen kann; so, dass es ohne Wenn und Aber sinnvoll ist. Einfach für sich – ohne Zweck und ohne Nutzen, nicht gewollt und nicht gemacht. Einfach so, weil es stimmt. Und sei es das Licht in einem bayrischen Gehöft. Ich bin mir sicher: Was Viktor Frankl bei seinem Arbeitsdienst erlebte, hätte ein alter Grieche womöglich als Erscheinung des Apollon beschrieben.
So ist Apollon der Strahlende, ihn umgibt die Aureole des Sinns, und sein Erscheinen ist grenzenlose Schönheit. Er ist die Bejahbarkeit selbst, deren Wesen darin liegt, dass ES STIMMT. Dieses ES STIMMT – ich muss es noch einmal wiederholen – ereignet sich mitten in dieser Welt. Und immer da, wo es sich ereignet, sagte der Grieche »Apollon« und verehrte in diesem Namen das große Geheimnis des Lebens.
So, genug davon! Was hat das alles mit Philosophie zu tun? Das ist doch Mythologie! Stimmt, aber es ist die Mythologie, aus deren Geist die griechische Philosophie entsprungen ist. Ja, ich behaupte: Die alte griechische Philosophie, bis hin zu Platon, ist nichts anderes als der Versuch, die Weisheit und Weltsicht der mythischen Zeit in die neue Sprache des Logos zu übersetzen. Ich behaupte ferner, dass die alte mythische Erfahrung der Götter in der Sprache der Philosophie als eine stimmige Theorie des Sinns wiederkehrt. Und ich behaupte drittens, dass diese Theorie des Sinns uns nicht nur die lebensrettende Sinnerfahrung eines Viktor Frankl verständlich macht, sondern auch uns selbst eine Sinnperspektive öffnet, die uns mit Lebenskraft und -freude erfüllt. Neugierig? Dann lassen Sie uns bei den Griechen bleiben. Dann freuen Sie sich mit mir auf Platon. Denn den müssen wir jetzt konsultieren, weil in seiner Philosophie ganz unverblümt der alte Apollon zu neuen Ehren gebracht wird. Und zwar genau dort, wo es um das Höchste, Tiefste, Letzte oder jedenfalls Wichtigste geht, was Platon seinen Lesern ans Herz legen wollte: die Idee des Guten . Wobei ich erwähnen sollte, dass ich Platons »Idee des Guten« als dasjenige verstehe, was ich den Sinn des Sinns nenne – dasjenige, was verstanden haben muss, wer verstehen will, was Sinn ist. Also das, wonach wir suchen …
Nun werde ich Ihnen wohl oder übel in der gebotenen Kürze der Zeit erläutern müssen, was die Idee des Guten ist. Was sich nicht ganz einfach gestaltet, weil wir dafür zweierlei Dinge vorweg klären müssen: Was eine Idee ist und was das Gute ist. Aber keine Angst, das bekommen wir hin. Hier ist erst einmal die einschlägige Stelle aus Platons großer Abhandlung Der Staat . Es spricht Sokrates:
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