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...und noch ein Küsschen!

...und noch ein Küsschen!

Titel: ...und noch ein Küsschen! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roald Dahl
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sich dort oben drei schreckliche Sekunden im Gleichgewicht, und dann sprang er – er sprang so hoch und so weit, wie er nur konnte, und zugleich schrie er:
«Hilfe!»
    «Hilfe! Hilfe!»
, schrie er, während er fiel. Und schon verschwand er im Wasser.
    Als der erste Hilferuf ertönte, zuckte die Frau an der Reling zusammen, hob rasch den Kopf, schaute umher und sah den kleinen Mann in weißen Shorts, weißem Hemd und Tennisschuhen mit ausgebreiteten Armen und laut kreischend durch die Luft segeln. Einen Augenblick lang schien sie zu überlegen, was sie tun sollte: Einen Rettungsring werfen, weglaufen und Alarm schlagen oder sich einfach umdrehen und schreien. Sie trat einen Schritt von der Reling zurück und wandte sich halb um, sodass sie mit dem Gesicht zur Kommandobrücke stand. So verharrte sie einige Sekunden, regungslos, angespannt, unentschlossen. Gleich darauf hatte sie den Schock überwunden, beugte sich über die Reling undspähte angestrengt ins Wasser, dorthin, wo es von den Schiffsschrauben aufgewühlt wurde. Ein winziger runder schwarzer Kopf tauchte aus dem Schaum, ein Arm hob sich, winkte ein-, zweimal äußerst heftig, und eine schwache, ferne Stimme rief irgendetwas Unverständliches. Die Frau beugte sich noch weiter vor und versuchte, den auf und ab tanzenden schwarzen Punkt im Auge zu behalten, aber bald, sehr bald war er so klein geworden, dass sie nicht genau wusste, ob er überhaupt noch da war.
    Nach einer Weile kam eine zweite Frau an Deck. Sie war mager, hatte eckige Bewegungen und trug eine Hornbrille. Als ihr Blick auf die Frau an der Reling fiel, ging sie mit dem festen, militärischen Schritt alter Jungfern auf sie zu.
    «
Hier
bist du also», sagte sie.
    Die Frau mit den dicken Knöcheln fuhr herum und sah sie an, erwiderte aber nichts.
    «Ich habe dich gesucht», fügte die Magere hinzu. «Überall habe ich dich gesucht.»
    «Merkwürdig», murmelte die Frau mit den dicken Knöcheln. «Da ist eben ein Mann über Bord gesprungen. Mit allen Kleidern.»
    «Unsinn!»
    «Doch, doch. Er sagte, er wollte seine Übungen machen, und sprang ins Wasser, ohne sich auszuziehen.»
    «Komm jetzt mit nach unten», befahl die magere Frau. Ihre Lippen waren plötzlich schmal geworden, ihr Gesicht hatte einen strengen, wachsamen Ausdruck, und sie sprach weniger freundlich als zuvor. «Und dass du mir nicht wieder allein an Deck gehst. Du weißt sehr gut, dass du auf mich warten sollst.»
    «Ja, Maggie», antwortete die Frau mit den dicken Knöcheln, und wieder lächelte sie ihr zartes, vertrauensvollesLächeln. Sie nahm die Hand der anderen und ließ sich fortführen.
    «So ein netter Mann», sagte sie. «Er hat mir zugewinkt.»

Der rasende Foxley
    Seit sechsunddreißig Jahren fahre ich fünfmal in der Woche mit dem Zug um acht Uhr zwölf in die Stadt. Er ist nie übermäßig voll, und von seiner Endstation, dem Bahnhof Cannon Street, habe ich nur noch elf und eine halbe Minute bis zu meinem Büro in Austin Friars zu gehen.
    Ich bin schon immer gern mit der Vorortbahn gefahren; diese kleine Reise bereitet mir in jeder ihrer Phasen Vergnügen, und ihr geregelter Ablauf ist für mich, einen Mann von festen Gewohnheiten, angenehm und beruhigend. Außerdem dient mir die Fahrt als eine Art Rutschbahn, auf der ich sanft, aber sicher in das Wasser der täglichen Pflichten gleite.
    Unsere Station ist ein kleiner Landbahnhof, und morgens finden sich dort höchstens zwanzig Leute ein, um auf den Achtuhrzwölf zu warten. Wir bilden eine Gruppe, deren Zusammensetzung sich selten ändert, und wenn gelegentlich ein neues Gesicht auf dem Bahnsteig erscheint, läuft eine kleine Protestwelle durch die Reihen – wie in einem Käfig voller Kanarienvögel, in dem ein neuer Mitbewohner aufgetaucht ist.
    Aber im Allgemeinen sind wir unter uns, wenn ich morgens vier Minuten vor Abfahrt des Zuges eintreffe; sie stehen auf ihren gewohnten Plätzen, diese guten, soliden, verlässlichen Leute, mit den gewohnten Regenschirmen, Hüten, Krawatten und Gesichtern, die Zeitung unter dem Arm, jahraus, jahrein so unverändert und unveränderlich wie die Möbel in meinem Wohnzimmer. Ich schätze das.
    Ich schätze auch meinen Fensterplatz, auf dem ichbeim ratternden Rollen des Zuges die
Times
lese. Dieser Teil der Fahrt dauert zweiunddreißig Minuten, und er beruhigt sowohl meinen Geist als auch meinen reizbaren alten Körper wie eine gute, gründliche Massage. Glauben Sie mir, Regelmäßigkeit ist das beste Mittel, sich ein

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