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...und noch ein Küsschen!

...und noch ein Küsschen!

Titel: ...und noch ein Küsschen! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roald Dahl
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nun stellen Sie sich, sofern Ihre Phantasie dazu ausreicht, mein Entsetzen vor, als der Neue mir ungeniert in
mein
Abteil folgte! Das hatte mir in den letzten fünfzehn Jahren niemand zu bieten gewagt. Mein Privileg wurde von jeher respektiert. Eines meiner speziellen kleinen Vergnügen besteht nämlich darin, das Abteil bis zur nächsten, manchmal sogar bis zur zweiten oder dritten Station für mich allein zu haben. Aber hier, bitte schön, flegelte sich dieser Kerl, dieser Fremde, auf dem Platz mir gegenüber, schnäuzte sich, raschelte mit der
Daily Mail
und zündete sich eine abscheuliche Pfeife an.
    Ich senkte die
Times
ein wenig und musterte ihn verstohlen. Er mochte etwa in meinem Alter sein – so um dreiundsechzig herum   –, aber er hatte eines dieser grässlich gut aussehenden braunen, von Wind und Wetter gegerbten Gesichter, die man heutzutage in allen Reklameanzeigen für Herrenhemden findet – Löwenjäger, Polospieler, Everest-Bezwinger, Urwaldforscher und Sportsegler in einer Person. Stahlgraue Augen, dunkle Brauen, kräftige weiße Zähne, die fest auf das Mundstück der Pfeife bissen. Ich misstraue allen gutaussehenden Männern. Die oberflächlichen Freuden dieser Welt sind ihnen zu leicht erreichbar, und sie treten auf, als verdankten sie ihr gutes Aussehen einzig und allein sich selbst. Wohlgemerkt, gegen hübsche
Frauen
habe ich gar nichts. Das ist etwas anderes. Aber bei einem Mann – nein, es tut mir leid, bei einem Mann finde ich so etwas geradezu anstößig. Nun, wie dem auch sei, der Kerl saß mir jedenfalls genau gegenüber, und ich musterte ihn über den Rand meiner Zeitung hinweg, als er plötzlich den Kopf hob und unsere Blicke sich trafen.
    «Stört sie die Pfeife?», fragte er und hielt das Ding hoch. Das war alles, was er sagte. Aber der Klang seiner Stimme hatte eine ungeahnte und außerordentliche Wirkung auf mich. Tatsächlich, ich glaube, ich fuhr zusammen. Dann erstarrte ich gleichsam und sah ihn mindestens eine Minute an, bevor ich mich so weit in der Gewalt hatte, dass ich ihm antworten konnte.
    «Dies ist ein Raucherabteil», sagte ich. «Tun Sie, was Ihnen beliebt.»
    «Ich wollte mich nur vergewissern.»
    Da war sie wieder, diese vertraute, eigenartig scharfe Stimme, die die Endsilben verschluckte und die Worte hart und schnell hervorspie wie ein Maschinengewehr, das Obstkerne verschießt. Woher kannte ich dieseStimme? Und wie kam es, dass jedes Wort einen winzigen empfindlichen Punkt weit hinten in meiner Erinnerung traf? Du meine Güte, dachte ich, nimm dich zusammen. Was ist denn das für ein Unsinn?
    Der Fremde wandte sich wieder seiner Zeitung zu. Ich gab vor, das Gleiche zu tun. Mittlerweile war ich jedoch so aufgewühlt, dass ich mich nicht mehr zu konzentrieren vermochte. Ich beobachtete ihn also weiterhin verstohlen über den Rand der Leitartikelseite hinweg. Ja, er hatte ein unerträgliches Gesicht, gut aussehend, aber mit einem Stich ins Vulgäre, fast ins Laszive. Und dieser ekelhaft ölige Schimmer auf der Haut   … Hatte ich dieses Gesicht wirklich schon einmal gesehen? Ich zweifelte jetzt kaum noch daran, denn ich brauchte es nur anzuschauen, um sofort ein seltsames Unbehagen zu empfinden, das ich nicht definieren konnte – ich wusste nur, dass es mit Schmerz, mit Gewalt, vielleicht sogar mit Furcht zu tun hatte.
    Wir wechselten kein Wort mehr während der Fahrt, aber Sie dürfen mir glauben, dass mein gewohntes Gleichmaß durch diese Begegnung empfindlich gestört wurde. Der Tag war für mich verdorben. Mehr als einer meiner Angestellten bekam eine scharfe Antwort von mir, vor allem nach dem Mittagessen, als ich auch noch Schwierigkeiten mit meiner Verdauung hatte.
    Am nächsten Morgen stand er wieder da, in der Mitte des Bahnsteigs, mit seinem Spazierstock, seiner Pfeife, seinem seidenen Schal und seinem widerlich gut aussehenden Gesicht. Ich ging an ihm vorbei und trat auf einen gewissen Mr.   Grummitt zu, einen Börsenmakler, der schon seit achtundzwanzig Jahren mit mir fährt. Normalerweise hätte ich nie eine Unterhaltung mit ihm angefangen – wir sind alle ziemlich zurückhaltend   –, aber eine solche Krise bricht eben das Eis.
    «Grummitt», fragte ich leise, «wer ist dieser ordinäre Kerl?»
    «Keine Ahnung», erwiderte Grummitt.
    «Recht unsympathisch.»
    «Sehr.»
    «Hoffentlich fährt er nicht regelmäßig.»
    «Um Himmels willen», sagte Grummitt. Dann lief der Zug ein.
    Diesmal stieg der Mann zu meiner großen Erleichterung in ein

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