...und noch ein Küsschen!
sich plötzlich um und lief zurück – über die Straße, durch die Pforte, ins Haus. Er ging zum Telefon, sah im Buch nach, wählte eine Nummer und wartete. Seine linke Hand hielt den Hörer umklammert, während er mit der rechten ungeduldig auf den Tisch klopfte. Er hörte das Klingelzeichen am anderen Ende der Leitung, dann ein Klicken. Eine verschlafene männliche Stimme sagte: «Hallo, ja.»
«Dr. Scott?», fragte er.
«Ja. Am Apparat.»
«Dr. Scott, Sie müssen sofort kommen – bitte, schnell.»
«Wer spricht denn da?»
«Klausner. Sie erinnern sich doch, ich habe Ihnen gestern Abend von den Lauten erzählt, die ich hören möchte, und davon, dass ich hoffte …»
«Ja, ja, natürlich, aber was ist los? Sind Sie krank?»
«Nein, krank bin ich nicht, aber …»
«Was denn», sagte der Arzt, «und da reißen Sie mich morgens um halb sieben aus dem Schlaf?»
«Bitte, kommen Sie. Kommen Sie schnell. Ich möchte, dass jemand es hört. Es macht mich verrückt! Ich kann es nicht glauben …»
Der Arzt kannte diesen verzweifelten, fast hysterischen Tön – es war der gleiche Ton, in dem man ihm schon oft durchs Telefon zugerufen hatte: «Hier ist ein Unfall passiert. Kommen Sie schnell.» Er sagte langsam: «Sie wollen also wirklich, dass ich aufstehe und zu Ihnen komme?»
«Ja, jetzt gleich. Sofort, bitte.»
«Also gut – in ein paar Minuten bin ich da.»
Klausner setzte sich neben das Telefon und wartete. Er suchte sich zu erinnern, wie der Schrei des Baumes geklungen hatte, aber es gelang ihm nicht. Er wusste nur, dass es furchtbar gewesen war und dass sich ihm vor Entsetzen der Magen umgedreht hatte. Was für einen Schrei würde wohl ein Mensch ausstoßen, der fest in der Erde verankert dastehen musste, während ihm jemand eine scharfe Axt ins Bein hieb, sodass die Schneide tief eindrang und sich in der Wunde einkeilte? Vielleicht den gleichen Schrei? Nein. Ganz bestimmt nicht. Der Schrei des Baumes war schrecklicher gewesen als irgendein Laut, den Menschen hervorbringen konnten, weil er etwas so grauenhaft Tonloses, Kehlloses gehabt hatte. Undwie würden wohl andere Lebewesen schreien? Klausner sah sofort ein Weizenfeld vor sich, ein Feld voll lebender, aufrecht stehender gelber Weizenhalme, über das eine Mähmaschine fuhr, die mit ihren scharfen Messern die Halme durchschnitt, fünfhundert Halme in der Sekunde, in jeder Sekunde. O Gott, was musste
das
für ein Laut sein? Fünfhundert Weizenpflanzen, die gleichzeitig aufschrien, und in jeder Sekunde wurden fünfhundert weitere geschnitten und schrien – nein, dachte er, ich will nicht mit meinem Apparat auf ein Weizenfeld gehen. Ich würde danach nie wieder Brot essen können. Und wie ist es mit Kartoffeln, fragte er sich, mit Kohlköpfen, Karotten und Zwiebeln? Und mit Äpfeln? Ach nein, bei Äpfeln ist nichts zu befürchten. Sie fallen auf natürliche Weise ab, wenn sie reif sind. Mit Äpfeln ist es etwas anderes, sofern man sie abfallen lässt und sie nicht von den Zweigen reißt. Aber Gemüse … Kartoffeln zum Beispiel. Eine Kartoffel würde bestimmt schreien, ebenso eine Karotte, eine Zwiebel, ein Kohlkopf …
Er hörte das Knarren der Gartenpforte, sprang auf, lief hinaus und sah den hochgewachsenen Arzt, der sich mit seiner schwarzen Tasche in der Hand dem Haus näherte.
«Na», sagte Dr. Scott, «wo brennt’s denn?»
«Kommen Sie mit, Doktor. Ich möchte, dass Sie es hören. Ich habe Sie gerufen, weil Sie der Einzige sind, dem ich’s erzählt habe. Es ist drüben im Park. Kommen Sie mit.»
Der Arzt sah ihn an. Klausner schien sich beruhigt zu haben. Nichts deutete auf Geistesgestörtheit oder Hysterie hin; er war nur nervös und erregt.
Sie gingen über die Straße in den Park. Klausner führte den Arzt zu der großen Buche, an deren Fuß der sargähnliche schwarze Kasten stand. Daneben lag die Axt.
«Warum haben Sie den Apparat hierhergebracht?», fragte Dr. Scott.
«Ich brauchte einen Baum. In meinem Garten gibt es keine großen Bäume.»
«Und was soll die Axt?»
«Das werden Sie gleich sehen. Aber jetzt setzen Sie bitte den Kopfhörer auf und geben Sie acht. Geben Sie sehr gut acht, und sagen Sie mir nachher genau, was Sie gehört haben. Ich möchte ganz sichergehen …»
Der Arzt lächelte, nahm den Kopfhörer und stülpte ihn über die Ohren.
Klausner bückte sich und schaltete den Apparat ein. Dann ergriff er die Axt, stellte sich breitbeinig hin, um den Schlag zu führen. Einen
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