...und noch ein Küsschen!
Gemälden der Tate Gallery nicht zu scheuen. Und weil sie so sagenhaft schön sind, schaffen sie um ihn herum eine besondere Atmosphäre, die aufreizend, atemberaubend und ein wenig beängstigend ist – beängstigend, wenn man daran denkt, dass er ohne weiteres die Macht und dasRecht hat, ein prachtvolles Tal von Dedham, einen Mont Saint-Victoire, ein Kornfeld bei Arles, ein Mädchen aus Tahiti, ein Porträt von Madame Cézanne zu zerschlitzen, zu zerreißen oder mit der Faust zu durchlöchern. Und die Wände, an denen diese Wunderwerke hängen, strahlen wie einen zarten goldenen Glanz jene Erhabenheit aus, in der er lebt, sich bewegt und mit einer Nonchalance, die nicht ohne Übung erworben wurde, seine Gäste empfängt.
Natürlich ist er Junggeselle, und er scheint nie in die Netze der Frauen zu geraten, die sich um ihn bemühen und ihn innig lieben. Es ist allerdings möglich – vielleicht werden Sie es in meinem Fall bemerken –, dass irgendwo in ihm eine Leere ist, eine Unzufriedenheit, ein Bedauern. Unter Umständen sogar eine leichte Perversion.
Ich glaube, mehr brauche ich nicht zu sagen. Ich bin sehr offen gewesen. Sie müssten mich jetzt gut genug kennen, um mir, wenn Sie meine Geschichte hören, Gerechtigkeit und – darf ich es hoffen? – Mitgefühl zuteil werden zu lassen. Und wer weiß, ob Sie nicht sogar zu dem Schluss kommen, dass die Schuld an dem, was geschehen ist, nicht nur mich trifft, sondern in erheblichem Maße auch eine Dame namens Gladys Ponsonby. Schließlich war sie es, die den Stein ins Rollen brachte. Hätte ich Gladys Ponsonby an jenem Abend vor etwa sechs Monaten nicht nach Hause begleitet und hätte sie nicht so offen über gewisse Leute und gewisse Dinge gesprochen, dann wäre diese tragische Geschichte nie passiert.
Es war im letzten Dezember, wenn ich mich recht erinnere. Ich hatte bei den Ashendens in ihrem bezaubernden Haus am Südrand des Regent’s Park diniert. Bis auf Gladys Ponsonby und mich waren alle Gäste – eine stattliche Anzahl – paarweise erschienen. Als wir aufbrachen,fühlte ich mich natürlich verpflichtet, Gladys meine Begleitung anzubieten. Sie nahm an, und wir fuhren zusammen in meinem Wagen fort. Vor ihrem Haus machte ich Miene, mich zu verabschieden, doch sie bestand unglücklicherweise darauf, dass ich hereinkäme und ‹noch einen auf den Weg› nähme, wie sie sich ausdrückte. Ich wollte kein Spielverderber sein, befahl also dem Chauffeur zu warten und folgte ihr.
Gladys Ponsonby ist ungewöhnlich klein – sie misst allenfalls ein Meter vierundvierzig, vielleicht sogar noch weniger. Neben solchen winzigen Leuten habe ich immer das komische, fast schwindelerregende Gefühl, auf einem Stuhl zu stehen. Gladys ist Witwe und ein bisschen jünger als ich – schätzungsweise drei- oder vierundfünfzig. Vor dreißig Jahren dürfte sie ein recht nettes Persönchen gewesen sein. Jetzt aber ist ihr Gesicht schlaff, runzlig und ohne jeglichen Reiz. Die individuellen Züge dieses Gesichts, die Augen, die Nase, der Mund, das Kinn, sind unter Fettfalten begraben, sodass man sie überhaupt nicht wahrnimmt. Bis auf den Mund vielleicht, der mich – ich kann mir nicht helfen – an ein Karpfenmaul erinnert.
Als sie mir im Wohnzimmer einen Cognac einschenkte, fiel mir auf, dass ihre Hand etwas unsicher war. Die Dame ist müde, sagte ich mir, du darfst also nicht lange bleiben. Wir setzten uns auf das Sofa und sprachen eine Weile über die Party bei den Ashendens und die Leute, die da gewesen waren. Schließlich stand ich auf.
«Setz dich wieder hin, Lionel», sagte sie. «Trink noch einen Cognac.»
«Nein, ich muss gehen. Wirklich.»
«Setz dich hin und rede kein dummes Zeug. Ich jedenfalls trinke noch einen, und du kannst mir wenigstens Gesellschaft dabei leisten.»
Ich beobachtete Gladys, diese winzige Frau, die leicht schwankend auf die Anrichte zusteuerte. Sie trug das Glas in beiden Händen vor sich her, als wollte sie ein Opfer darbringen, und ihr Anblick, wie sie da ging, so unglaublich klein und gedrungen und steif, rief in mir plötzlich die alberne Vorstellung wach, ihre Beine seien oberhalb der Knie zusammengewachsen.
«Lionel, worüber amüsierst du dich so?» Sie drehte sich halb nach mir um, während sie ihr Glas füllte, und dabei verschüttete sie ein wenig Cognac.
«Über nichts, meine Liebe. Über gar nichts.»
«Dann hör auf zu grinsen und sag mir, wie dir mein neues Porträt gefällt.» Sie wies auf ein riesiges Gemälde, das
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