...und noch ein Küsschen!
wahr, Mr. Klausner?» Sie beschloss, bis fünf zu zählen und dann auf das Haus zuzurennen.
«Sie werden vielleicht einwenden», fuhr er fort, «dass ein Rosenstrauch kein Nervensystem hat, mit dem er etwas empfinden kann, und keine Kehle, die es ihm ermöglicht zu schreien. Das stimmt. Er hat beides nicht. Nicht so wie wir jedenfalls. Aber woher wissen Sie, Mrs. Saunders –» er lehnte sich weit über den Zaun und sprach in einem leidenschaftlichen Flüsterton – «
woher wissen Sie
, dass ein Rosenstrauch, von dem man eine Blüte abschneidet, nicht ebenso großen Schmerz empfindet wie Sie, wenn man Ihnen mit einer Gartenschere das Handgelenk durchschneidet.
Woher wissen Sie das?
Der Strauch
lebt
doch, nicht wahr?»
«Ja, Mr. Klausner. O ja … Gute Nacht.» Damit machte sie kehrt und lief wie gehetzt den Gartenweg entlang. Klausner ging zum Tisch zurück. Er setzte den Kopfhörer auf und blieb eine Weile lauschend stehen. Nichts – nur das schwache Knistern und das Summen im Apparat. Er bückte sich, nahm ein weißes Gänseblümchen zwischen Daumen und Zeigefinger und zog langsam daran, bis der Stängel brach.
Von dem Augenblick, in dem er zu ziehen begann, bis zu dem Augenblick, da der Stängel brach, hörte er deutlich einen Schrei, einen leisen, hohen, seltsam unbeseelten Schrei. Er wiederholte das Experiment an einem anderen Gänseblümchen. Auch diesmal drang aus demKopfhörer ein Schrei an sein Ohr – aber er war jetzt nicht sicher, was dieser Schrei ausdrückte: Schmerz? Nein, eher Überraschung. Oder auch das nicht? Dieser Schrei drückte in Wahrheit keine der Empfindungen aus, die dem Menschen bekannt sind. Es war einfach ein Schrei, ein neutraler, unbeteiligter Schrei – ein einzelner Ton, der nichts ausdrückte. Und genauso war es bei den Rosen gewesen. Er hatte unrecht gehabt, es einen Schmerzensschrei zu nennen. Eine Blume empfindet wahrscheinlich keinen Schmerz. Sie fühlt etwas anderes, von dem wir nichts wissen – etwas, was vielleicht Schmarte heißt oder Plupfer oder Erflückerung oder sonst wie.
Klausner richtete sich auf und nahm den Kopfhörer ab. Es wurde dunkel. Er sah, wie in den umliegenden Häusern die Lichter aufflammten. Vorsichtig hob er den schwarzen Kasten vom Tisch, trug ihn in den Schuppen und stellte ihn auf die Werkbank. Dann schloss er die Tür von außen ab und ging ins Haus.
Am nächsten Morgen stand er in aller Frühe auf, zog sich an und lief sofort in den Schuppen, um den Apparat zu holen. Er umfasste ihn mit beiden Händen, drückte ihn gegen die Brust und schritt, leicht unter dem Gewicht schwankend, am Haus vorbei zur Gartenpforte und von dort über die Straße in den Park. Nachdem er kurz Umschau gehalten hatte, ging er weiter, bis er zu einem großen Baum kam, einer Buche. Er stellte den Kasten dicht neben den Baumstamm. Dann rannte er ins Haus zurück, holte eine Axt aus dem Kohlenkeller, trug sie über die Straße in den Park und legte sie ebenfalls neben den Baum.
Wieder hielt er Umschau, blickte nervös durch seine dicken Gläser nach allen Seiten. Kein Mensch weit und breit. Es war sechs Uhr morgens.
Klausner stülpte den Kopfhörer über die Ohren undschaltete den Apparat ein. Er lauschte ein Weilchen dem vertrauten schwachen Summen; dann ergriff er die Axt, stellte sich breitbeinig hin und hieb sie mit aller Kraft dicht über dem Boden in den Baumstamm. Die Schneide drang tief in das Holz und blieb dort stecken. Im Augenblick des Aufpralls hörte er einen höchst merkwürdigen Laut. Es war ein unbekannter Laut, anders als alles, was er jemals gehört hatte, ein raues tonloses Dröhnen, ein brummendes, tiefes Ächzen, nicht schnell und kurz wie der Aufschrei der Rosen, sondern langgezogen wie ein Seufzen. Am lautesten war es, als die Axt aufschlug, dann wurde es nach und nach schwächer, bis es schließlich verstummte.
Entsetzt starrte Klausner auf die Stelle, wo die Axt in das hölzerne Fleisch des Baumes gedrungen war. Er umfasste mit beiden Händen den Griff der Axt, zog die Schneide behutsam aus dem Stamm und warf das Werkzeug auf die Erde. Seine Finger tasteten über den Riss, der im Holz klaffte; er versuchte, die Ränder zusammenzupressen, um die Wunde zu schließen, und dabei murmelte er immer wieder: «Baum … ach, Baum … Es tut mir leid … Es tut mir so leid … Aber es wird heilen … O ja, es wird heilen …»
So stand er eine Zeitlang vor dem großen Baum, die Hände auf dem Stamm; dann drehte er
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