Und oben sitzt ein Rabe
zeichnete zwei rudimentäre Männchen nebeneinander auf das Papier. »Hier«, sagte er, »so lagen die beiden.«
Dann malte er Kreuzchen an fünf Stellen. Die linke Figur versah er mit drei Kreuzen: im – angedeuteten und deformierten – Kopf, in Nähe des Herzens und schräg versetzt in Nähe der Leber; die rechte Figur erhielt Kreuzchen in Kopf und Bauch. Dann verband er die Kreuze durch Striche dergestalt, daß linker Kopf und rechter Bauch Endpunkte einer, rechter Kopf und linke Leber Endpunkte der anderen Linie waren, wobei das Kreuzchen im linken Herzen auf dieser zweiten Linie lag.
»So«, sagte er, »das ergibt ein großes Kreuz. Wenn wir die Eckpunkte verbinden, erhalten wir ein Quadrat mit beiden Diagonalen.«
Stücker starrte auf die Skizze. »Sehr seltsam«, sagte er mit flacher Stimme. »Wer denkt sich so was aus? Sind Sie ganz sicher, daß die Lage der Körper und die Kreuzchen, ich nehme an, das sind Einschüsse, so genau richtig sind?«
Baltasar nickte. »Ja, natürlich. Was mißfällt Ihnen daran?«
Stücker machte eine schnelle Handbewegung. »Ach, nichts. Abgesehen davon, daß ich es sehr seltsam finde. Und was schließen Sie daraus?«
Baltasar steckte seinen Füller wieder ein. »Wenn ich morgens in ein Schlafzimmer ginge, um jemanden umzubringen, würde ich wahrscheinlich keine geometrischen Figuren herstellen, sondern versuchen, die Sache so schnell und gründlich wie möglich zu erledigen. Der Schütze muß ein bißchen verspielt sein, eine sehr ruhige Hand haben und gut schießen beziehungsweise zielen können.«
Stücker betrachtete noch immer die Skizze. »Wieso?«
»Also, er hat vermutlich aus einer Entfernung von drei Metern geschossen, jedenfalls verlaufen die Einschüsse schräg. Er muß ein paar Schritte vom Fußende des Bettes entfernt gestanden und geschossen haben. Um aus dieser Position heraus so genau und geometrisch korrekt zu schießen, braucht man schon ein bißchen Routine, denke ich mir.«
Stücker blickte auf; er schob Matzbach das Blatt wieder zu, das er zu sich herübergezogen und genauestens gemustert hatte. »Nun ja, kann sein.« Er starrte auf einen Luftpunkt oberhalb von Matzbachs rechtem Ohr.
Baltasar schwieg eine Weile. Plötzlich sagte er halblaut: »Grüne Meisen sind senfhaltiger als ich.«
Stücker riß sich zusammen. »Wie bitte?«
Baltasar sagte, lauter: »Ich habe mir erlaubt, Sie zu fragen, ob Ihnen etwas Hilfreiches einfällt.«
Stücker schüttelte den Kopf. »Entschuldigen Sie, ich hatte nicht zugehört. Aber was sollte mir dazu einfallen?«
Baltasar faltete den Zettel zusammen und steckte ihn ein. »Ist ja auch egal. Reden wir über etwas Erfreulicheres. – Wann findet die nächste Konjunktiv-Versammlung statt?«
»Donnerstag, glaube ich. Ich weiß nicht, ob ich diesmal teilnehmen kann. Wollen Sie wieder hingehen?«
Baltasar schob die Unterlippe vor. »Weiß nicht, das kommt drauf an, ob ich Zeit habe.« Er deutete auf das Bücherregal. »Sie sprechen und lesen einige Sprachen, sehe ich.«
Stücker nickte. »Man muß ja etwas tun, um nicht einzurosten.«
Matzbach stand auf und ging zum Regal. Eigentlich war es eher ein Schrank, tief, mit gegeneinander zu verschiebenden Glasscheiben; eine war hinter die andere geschoben.
Baltasar musterte die momentan unverglasten Bücher. »Gorkij, Korolenko, Gogol im Original«, murmelte er.
Stücker blickte ihn aufmerksam an. »Können Sie etwa auch Russisch?«
Baltasar schüttelte den Kopf.
»Nein«, gab er zu, »bedauerlicherweise nicht. Meine Kenntnisse reichen lediglich aus, um die kyrillischen Zeichen zu entziffern. – Dante, Italo Svevo, Camões, ah, mein Freund Borges.«
Stücker lächelte. »Kennen Sie den auch?«
Sie unterhielten sich eine Weile über diverse Autoren; später, gegen Ende des Tees, blickte Stücker auf die Uhr. »Gleich elf«, sagte er. »Tut mir leid, Herr Matzbach, aber ich muß Sie jetzt rauswerfen. Ich habe nachher noch eine – hm, diskrete Verabredung. Die Dame ist verheiratet und möchte nicht gesehen werden. Ich hoffe. Sie haben dafür Verständnis?«
Nachdem sie sich voneinander höflichst verabschiedet hatten, stieg Matzbach in seinen Wagen. Stücker blieb in der Haustür stehen und winkte. Im Rückspiegel stellte Baltasar fest, daß Stücker ihm nachschaute. Leise summend drehte er eine Runde um den großen Block und stellte seinen Wagen in einer Gasse ab. Vorsichtig näherte er sich von einer Seite, die ihm einen Blick auf Stückers Tür erlaubte, zu Fuß
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