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Und oben sitzt ein Rabe

Und oben sitzt ein Rabe

Titel: Und oben sitzt ein Rabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisbert Haefs
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Juni 1953 nichts taten. Endgültig beschlossen habe ich es, als sich der Westen am Suezkanal freiwillig die Hosen auszog, während die Sowjetunion in Ungarn demonstrierte, was Imperialismus ist.«
    Baltasar räusperte sich und verschluckte einige Einwände. »Wahrscheinlich«, sagte er mit düsterem Gesicht, »haben Sie sich dann überlegt, wie Sie die Agonie des Westens beschleunigen könnten. Und Sie sind zu mehreren Schlüssen gekommen. Erstens, zum Beispiel, daß die Bundesrepublik zwar unbedeutend ist, wenn es um eine Belebung des Westens geht, aber wichtig bei seiner Verteidigung. Zweitens, daß es Wege gibt, diese Position zu schwächen, die gründlicher und effektiver sind als das Ausforschen neuer Waffensysteme.«
    Stücker verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte. »Genau so ist es«, sagte er mit einer gewissen Wärme in der Stimme. »Und ich gebe Ihre Komplimente zurück. Ihre Analyse meiner Überlegungen ist zutreffend. Vietnam und, natürlich zeitlich versetzt, Afghanistan, Angola und so weiter haben mich immer wieder in meinen Plänen und Wünschen bestärkt.« Er entschränkte die Arme wieder, faltete dafür die Hände hinter dem Kopf und legte ein Bein auf die Tischkante. »Was, glauben Sie, hätte, sagen wir, Caesar im Fall Vietnam getan? Er wäre zu Fuß nach Hanoi gegangen. Man kann einen Gegner erst ausschalten, wenn man seine Basis angreift. Als die Amerikaner diese fiktive Grenze am soundsovielten Breitengrad respektierten, außer in der Luft, und obwohl sie wußten, daß General Giap anders verfuhr, war mir völlig klar, daß sie nicht gewinnen konnten. Weil sie, letzten Endes, nicht gewinnen wollten, denn die ehrwürdige Parole von der Verteidigung der Freiheit und die Frage der wirtschaftlichen Einflußsphären, all das reicht nicht aus, wenn der Herrschaftswille fehlt. Die Engländer um 1850 hätten das anders gemacht, und die Vietnamesen aus Hanoi
haben
es anders gemacht. Sie bestimmen heute im Süden, in Laos und Kambodscha, nach diesem üblen Zwischenspiel. Und die Russen machen so etwas auch anders. Sie sind zu Fuß nach Kabul gegangen.«
    Baltasar leckte sich die Lippen; er hatte einen schalen Geschmack im Mund. »Der Gedanke ist Ihnen nie gekommen, daß man vielleicht friedlich und in Gleichberechtigung miteinander verfahren könnte? Ich meine, die anderen Varianten haben wir in den letzten vier Jahrtausenden reichlich durchprobiert, und es ist wenig Gutes dabei herausgekommen.«
    Stücker zog eine verächtliche Grimasse. »Das ist etwas für Träumer. Wenn zwei Leute Waffen haben, aber einer von ihnen sie eigentlich nicht anwenden will, ist das Endergebnis vorhersehbar. Ich halte mich an die Realität, und die heißt Fressen oder Gefressenwerden, Befehlen oder Gehorchen, Siegen oder Untergehen. Deshalb habe ich mich auf die Seite der künftigen Sieger gestellt und versucht, die Sache zu beschleunigen. Und«, sagte er fast andächtig und mit einer gewissen Majestät, »nennen Sie mir eine Möglichkeit, einen Gegner schneller zu schwächen als so. Durch wahnsinnige Projekte, die Geld verschleudern, das anderswo dringender gebraucht würde. Durch gründliche Zersetzung der ökologischen und damit letztlich ökonomischen Basis. Vor allem aber durch Desillusionierung der Bevölkerung. Glauben Sie, wenn es demnächst zum großen Showdown kommt, daß noch viele Leute bereit sein werden, vor allem junge, diese marode Republik und ihre blinden Bürokraten mit der Waffe zu verteidigen? Ein geschwätziges Vaterland leerer Sonntagsreden, das seinen Bewohnern nicht einmal anständiges Trinkwasser anbietet? Vor allem: wozu? Was ist da noch wert, verteidigt zu werden?«
    Baltasar bildete sich ein, seine tauben Finger zu bewegen. Halblaut sagte er: »Oh, es gibt einige Freiheiten.«
    Stücker lachte spöttisch. »Was zählt das? Die bürgerlichen Freiheiten, das ist eine angenehme Erfindung der Europäer aus den letzten anderthalb Jahrhunderten. Fragen Sie mal einen Chinesen, Afrikaner oder Südamerikaner, was er davon hält. Ich bin dafür, daß wir wieder zu den wichtigen Dingen zurückkommen. Macht, zum Beispiel, und das Überleben der Gattung, nicht die Freiheit der vielen, die ohnehin nichts damit anfangen können als vor der Glotze zu sitzen. Der Kreml und der Vatikan wissen, daß das Individuum nicht zählt. Und der Kreml hat mehr Divisionen. Die Visionen überlasse ich da gern dem Papst.«
    »Aber wie vereinbaren Sie Individualist und Genußmensch das mit Ihren eigenen

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