Und raus bist du: Kriminalroman (German Edition)
einzudringen; der Mann hatte zwei, drei Tage lang unentschuldigt bei der Arbeit gefehlt, mehr nicht. Ihn selbst ging diese Angelegenheit eigentlich nichts an, er war nur ein Arbeitskollege. Und auf diese Weise in das Privatleben eines Kollegen einzudringen, war im Grunde unverzeihlich. So ermahnte er sich selbst, während er zum Bücherregal ging und einen Ordner mit weinrotem Aluminiumrücken herauszog, der mit »Wichtige Papiere« beschriftet war.
Hinter dem ersten Trennblatt war eine Klarsichthülle abgeheftet, auf der ein Etikett mit der Aufschrift »Solveig« klebte. Vorsichtig zog er ein Bund Papiere heraus und schaute sich das oberste von ihnen an. Es war eine Rechnung ganz aktuellen Datums. Das unterste der Papiere, die er in der Hand hielt, war eine fast identische Rechnung, nur zehn Jahre früher datiert. Die Rechnungen waren von einem Pflegeheim ausgestellt worden, das sich »Solberga« nannte und sich laut der Adresse, die in das Firmenlogo gedruckt worden war, in Fellingsbro befand. Ganz hinten in der Klarsichthülle fand er noch eine Broschüre, die das Pflegeheim als eine Perle in Bergslagen beschrieb, in naturschöner Umgebung und nahe am Wasser gelegen. Außerdem garantierte sie Rund-um-die-Uhr-Service durch das Pflegepersonal und bei Bedarf tägliche ärztliche Betreuung.
Sjöberg konnte sich nicht erinnern, dass Eriksson seine Frau jemals beim Namen genannt hatte, aber er konstatierte, dass eine Frau aus seiner Generation durchaus Solveig heißen konnte. Es war ganz offensichtlich, dass eine mutmaßliche Frau Eriksson nicht in dieser kleinen Wohnung lebte. Wohnte sie möglicherweise im Pflegeheim »Solberga«, und wenn ja, warum? Sjöberg verfluchte sich selbst, dass er sich im Laufe der vergangenen Jahre stets mit Erikssons Brummeln als Antwort begnügt hatte, wenn er ihm neugierige Fragen über den Urlaub oder das vergangene Weihnachtsfest gestellt hatte. Aber die abweisende Miene des Kollegen und seine barsche Art sorgten effektiv dafür, dass seine Umgebung Abstand zu ihm hielt. Es war ganz offensichtlich, dass er andere nicht an seinem Privatleben teilhaben lassen wollte, und vielleicht lag der Grund dafür ganz einfach darin, dass er kein Leben zu haben glaubte, das andere interessieren könnte. Einars Verschwiegenheit und seine Sturheit rührten vielleicht nur von der Enttäuschung her, dass sein Leben nicht so verlaufen war, wie er es sich möglicherweise vorgestellt hatte, als die Fotografie aus dem Flur aufgenommen worden war.
Er klappte den Ordner wieder zu, ohne seinen Inhalt weiter zu untersuchen. Ihm war nach dem kleinen Einblick, den er in das Privatleben seines Kollegen genommen hatte, schon unangenehm genug zumute. Bevor er Einar Erikssons Wohnung verließ, erlaubte er sich allerdings noch einen Blick in die Küche. Er blieb vor dem Herd stehen, der wie die Spüle und der kleine Küchentisch blitzblank geputzt war, und plötzlich wurde ihm bewusst, dass es tatsächlich Einar selbst sein musste, der sich an diesem Herd seine Wurst à la Stroganoff zubereitete. Eben noch hatte er bei der Vorstellung lachen müssen, dass Eriksson mit umgebundener Schürze selbst vor den Töpfen stehen könnte, aber jetzt war ihm gar nicht mehr zum Lachen zumute. Die Tatsache, dass Einar um sich herum alles sauber und ordentlich hielt und auch seine persönliche Hygiene nicht vernachlässigte – was ganz offensichtlich war, obwohl er stets in derselben langweiligen, billigen Kleidung herumlief –, sprach dafür, dass er nicht aufgegeben hatte. Obwohl – »aufgeben«, dachte er –, wer war er denn, dass er sich anmaßen konnte, Einar Erikssons Leben als lebenswert oder nicht zu beurteilen? Aber irgendetwas war mit Eriksson – und da war schon immer etwas mit Eriksson gewesen –, der mit seiner griesgrämigen Miene einen Eindruck von Schwermut und Resignation hinterließ. Es war nichts, was ihm unmittelbar aufgefallen wäre, sondern es war mit den Jahren gewachsen, ohne dass er jemals richtig den Finger darauf hätte legen können. Aber es war der Grund dafür, dass Sjöberg sich nicht desselben etwas groben Jargons bediente wie seine Kollegen, wenn er mit Einar sprach, und keine sarkastischen Kommentare hinter seinem Rücken fallen ließ.
Auf der kleinen Arbeitsfläche rechts vom Herd standen ein paar Kochbücher. Eines davon erkannte er aus der Küche seiner Mutter wieder. Es musste mindestens vierzig Jahre alt sein, dachte er, während er es vorsichtig herauszog, um die anderen Bücher nicht
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