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Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina-Maria Bammel
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die Großstadt. Schon seit 100 Kilometern wird Berlin auf den großen blauen Schildern angezeigt. 500 Kilometer liegen noch vor ihr, bevor sie wieder zum Dienst antreten muss.
    Erleichtert stellt sie fest, es fährt sich fast wie von selbst. Wenn nur die Müdigkeit nicht wäre. Ab und an saust ein |79| Adrenalinstoß durch Körper und Kopf, wenn die Augen für den Bruchteil einer Sekunde zufallen wollen. Hinter einer großspurigen Kurve helle Lichter, die warnblinken. Riesige Transporter befördern halbe Häuser über die Autobahn, mit Überbreite und Polizeibegleitung. Diesen Elefantentransport hat sie binnen Sekunden überholt. Abfahren wäre jetzt gut. Für einen Moment ausruhen, einen Kaffee holen vielleicht. Der wie vielte? – Sie hat aufgehört zu zählen.
    Sie fühlt sich wie elektrisch aufgeladen und gleichzeitig unendlich müde; eigentlich viel zu müde, um allein 600 Kilometer durch die Nacht zurückzufahren. Aber wer weiß, ob der angesagte Schnee fällt? Dann ist es besser, schon so weit wie möglich gekommen zu sein.
    Grässlich, aber hilfreich ist das heiße braune Wasser, das sie einige Momente später im Pappbecher hält. Wenigstens wärmt der Kaffee ein bisschen die Hände. Der schneekalte Wind bläst ihr die Jacke auf. Als sie wieder in das erwärmte Auto einsteigen will, steht eine junge Frau, vielleicht auch ein Mädchen, auf dem Bürgersteig und schaut zu ihr rüber. Die junge Frau zappelt ein bisschen – immer von einem Bein aufs andere. Ihr Gesicht ist in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Ihr etwas gammeliger Rucksack am Boden scheint fast größer zu sein als sie selbst. Bedruckte Leggins in streichholzdünnen Beinen. Viel zu klobige Schuhe an den Füßen. Die Art von Schuhen, die sich junge Frauen anziehen, wenn sie in bestimmten Milieus was gelten müssen. Notfalls kann man mit solchen Schuhen auch treten.
    Manchmal rationalisieren wir unsere Entscheidungen erst im Nachhinein.
    Die Pfarrerin war noch nie in der Verlegenheit, einen fremden Menschen vom Parkplatz weg ins Auto zu laden. Oder hat sie es bisher einfach nur vermieden?
    Mit Sicherheit hatte es etwas mit der auffällig zarten Erscheinung der wartenden Frau zu tun, fast wie eine Tänzerin ohne Bühne …
    »Ich muss Richtung Berlin«, sagt sie und zeigt auf das |80| Autokennzeichen. Nicht: »Ich würde gern« oder »möchte bitte«, sondern: »Ich muss.«
    Die Autofahrerin zögert einen Moment. Und für einen Augenblick erinnert sie sich an ihre eigene Mutter: Als Studentin in den 60er Jahren kannte die jeden Meter an den Autobahnabfahrten zwischen Ostberlin und Greifswald. Trampen war angesichts einer völlig unterentwickelten und unzuverlässigen Bahnverbindung die einzige Möglichkeit, so oft wie möglich in Berlin zu sein und doch wieder rechtzeitig zurück in den Hörsaal zu kommen. Wie viele Stunden muss die Mutter damals mit Nietenhosen und Stullen in der Tasche in einbrechender Dunkelheit, in Kälte, Schnee oder Regen gestanden haben, um überhaupt vom Fleck zu kommen? Dass die Studentin von ihrem Pendeln per Anhalter zu Hause nur höchst selten berichtet hatte, verstand sich von selbst. Ein halbes Jahrhundert ist das her. Wer fährt heute noch per Anhalter?

    »Steig ein«, sagt die Übermüde zu der verfrorenen Erscheinung, öffnet ihr für den Rucksack die Heckklappe und schiebt die versammelte Unordnung auf dem Beifahrersitz etwas zusammen, um sie nach hinten zu werfen: Dinge aus der Waschtasche, Zeitung, Taschenkalender, Stifte. Mag die Anhalterin darüber denken, was sie will.
    Die steigt ein und schnallt sich an, als würde sie das 100mal am Tag tun.
    Dass die zarte Frau mit den Leggins und den schweren Schuhen grün gefärbte und einseitig gestoppelte Haare auf dem Kopf hat, sieht die Pfarrerin erst jetzt. Mütze und Schal hat sie abgenommen und auf die Rückbank gelegt: Dort entdeckt sie auch den Kindersitz und fragt fast schon ein bisschen höflich: »Wo ist das Kind?«
    »Das schläft jetzt hoffentlich schon lange im eigenen Bett zu Hause. Da will ich nämlich auch hin. Und wenn ich jemanden neben mir habe, dann bleibe ich bestimmt bis Berlin Zentrum wach.« Die Unbekannte mit dem großen Rucksack und den grünen Haaren kommentiert das nicht weiter.
    |81| Die Frau am Steuer verrät ihren Namen, einfach weil sie das höflich findet: »Ella.«
    Die Anhalterin behält ihren Namen für sich.

    Momente später sind die beiden auf der Überholspur. Wieder blinken jetzt die Rundleuchten der Schwertransporter. »Den

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