Und sie wunderten sich sehr
möchte er besser nicht weiterdenken, vorerst nicht. Nur noch fünf Nächte bis zum Krippenspiel.
Während der Proben sitzt der Papa der Räuber-Drillinge auf den Kanzelstufen. Von dort aus soll er die Lichtorgel und den Vorhang bedienen. Außerdem darf er das Aufstellen der Stall-Requisiten in der fünften Szene nicht verpassen. Auf die Stufe hinter dem barocken Holzgeländer fällt so gut wie gar kein Licht. Weil er hier wie versteckt und abseits des Bühnengeschehens sitzt, braucht er für ein paar Momente seine Traurigkeit nicht zu verstecken. Er kann die Augen schließen, die Spannung aus dem Rücken entlassen und für Bruchteile von Zeit in einen Kokon schlüpfen, in dem nichts wehtut. Hier kann Schmerz und Enttäuschung mal Pause machen. Er kann die Gedanken dorthin laufen lassen, wo vielleicht einmal so etwas wie Zukunft sein wird. Ein Zukunftsland. Ein »Heil-Land?« … Davon singen die Kinder gerade …
Und jetzt müssen die Beleuchtungen geändert werden, denn nun wollen die Räuberinnen dem Hirtenjungen die warme Decke stehlen. Aber der Hirtenjunge verschenkt sie |77| schnell an arme Leute am Wegesrand. Und gleich darauf wollen die Räuberinnen unbedingt an das Brot kommen, das der Hirtenjunge noch fürs Kind in der Krippe aufgehoben hatte. Zu deren (gar nicht mal so schlecht gespielten) Überraschung dreht sich der Hirtenjunge aber einfach um und schenkt ihnen das Brot, indem er sagt: »Dann braucht ihr es nicht zu stehlen. Ihr scheint es ja zu brauchen. Jetzt komme ich zwar mit leeren Händen zum Kind in Bethlehem, aber vielleicht wird das Kind es verstehen?« Die Räubermädchen wissen nicht so recht, ob sie sich freuen oder ärgern sollen. Sie haben nichts erbeutet, sie wurden beschenkt.
Der Räuber-Papa kann nach zwölf Proben diese Textpassage vollständig mitsprechen. Er bewegt die Lippen und spürt: Auch in seinem Leben hat einer schamlos geräubert. Stopp. Diese Art von Selbstschau-Leiden hat er sich doch verboten. Er weiß viel zu gut, dass er eigentlich seine Kraft für etwas anderes, etwas viel Besseres braucht. »Heil-land« singen die Kinder wieder. Kommt er aber nicht immer wieder wie von selbst – dieser Gedanke: ausgeräubert!? Bestohlen!? Das einzige Fazit nach bereits zwei Jahren Scheinehe? Und wer weiß, was es vorher war.
Der Hirtenjunge muss von links nach rechts über die Bühne laufen, während die Bäume sich im Hintergrund bewegen. Zwar geht er mit leeren Händen, aber er scheint sich zu freuen auf die Begegnung in Bethlehem. Einzigartig, unwiederholbar und geheimnisvoll wird sie sein. Die Räuberkinder schleichen dem Hirtenjungen hinterher.
Seine drei Räuberkinder, wie sie da im Papp-Stall ankommen und vor dem Körbchen stoppen. Im Grunde sind sie seine Krippenkinder. Sie sind vielleicht nicht gleich der Weg ins Zukunfts- oder Heil-Land, aber sie sind ein guter Grund, jeden Weg zumindest zu versuchen. Zwei der Mädchen winken kurz dem Vater auf den Kanzelstufen zu. Er winkt zurück. Sein Lebensmittel, das Mittel gegen alles Selbstmitleid, steht auf dieser Bühne und singt jetzt: »Kommet ihr Hirten, ihr Männer …«
Wieder so leichtfüßig und gewiss wie der Hirtenjunge |78| aus der vorletzten Szene gehen können. Kann man sich das wünschen? Kann man so einen Wunsch überhaupt aussprechen? Seltsam kommt er sich bei diesem Gedanken vor.
Letzte Szene. Der stolze Papa schließt den Vorhang. Die Weihnachtsgeschichte geht ja letztlich auch nicht »happy« ins Finale. Aber das behält er jetzt besser für sich.
Nur eines will er dann doch gern die anderen Mütter fragen: An welchem Punkt ist eigentlich die Weihnachtsgeschichte zu Ende? Als die Magier wieder verschwunden sind? Als die Flüchtlingseltern eine Unterkunft in Ägypten suchen? Als Jesus zwölf Jahre alt ist und für kurze Zeit wie vom Erdboden verschluckt unauffindbar bleibt … Das ist doch alles kein richtiges Ende. Vielleicht gibt es noch gar keines?
Er findet die Frage fast ein bisschen amüsant und muss zum ersten Mal seit Tagen ohne Kraftanstrengung lächeln. Also tut er es einfach, als er Hirten, Schafe, Räuber und arme Leute zusammen mit Maria und Joseph schon längst über die Kirchenbänke springen und unter den Kirchenbänken robben sieht. Die Probe ist beendet. Das wirkliche Leben beginnt.
Ein Hauch von Myrrhe
Und sie zogen auf einem anderen Weg
wieder in ihr Land.
Matthäus 2,12
24 Stunden Abwesenheit vom Dienst sind der Pfarrerin erlaubt. Jetzt ist sie auf dem Weg nach Hause, zurück in
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