Und sie wunderten sich sehr
anderen Seite der Weltkugel statt und ist geprägt von einem anderen Namen. Fast nie taucht dieser Name vollständig auf. Die digitale Unterschrift ist meist nur ein – »E.« Als er den Namen in der ersten Mail in vollständiger Gestalt liest, beißt er sich so fest auf die Unterlippe, dass die sofort zu bluten beginnt. Aber das spürt er nicht einmal: Elliot.
Längst ist die Stunde vergangen. Noch immer sitzt er wie angenagelt auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch. Längst werden die Kinder an der Schule auf ihren Papa warten und sich bestimmt aus Langeweile irgendwelchen Unsinn ausdenken. Er versucht, sich währenddessen einen wartenden Mann in irgendeiner Stadt Argentiniens vorzustellen. Wird er am Flughafen sein, wenn Ricarda landet?
Erst als seine Augen die Armbanduhr suchen, wird ihm klar, wie sehr die eigenen Finger zittern, wie die Übelkeit würgt – und die Furcht vor dem, was jetzt folgen wird.
Er bringt es dann doch fertig, eine Freundin zur Schule zu schicken, um die Kinder abzuholen. Irgendwie bringt er es zustande, den Nachmittag und den Abend der Drillinge so zu organisieren, dass die Mädchen ihren Vater nicht sehen müssen.
Bevor Ricarda die Wohnungstür aufschließen wird, muss er sie treffen, aber nicht hier, sondern an einem anderen Ort. Der Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite! Es ist nicht der beste Ort, schon gar nicht an einem 4. Dezember mit Minusgraden und heraufkriechender Dunkelheit. Doch all die Worte, die fallen werden, sollen nicht in der Familienwohnung fallen. Einen Rest von Geborgenheit will er noch bewahren, auch wenn er den Boden unter sich schon |75| geöffnet sieht. Also wartet er auf sie. Eine halbe und noch eine halbe Stunde. Unten im Park.
Er weiß noch die Worte, mit denen er sie auf dem Parkweg begrüßt hat: »Eine reife Bühnenleistung!« – und er kann sich noch daran erinnern, wie sie die Designer-Einkaufstüten langsam, fast wie in Zeitlupe, abgestellt hat, als er den Namen Elliot ausspricht. Alle anderen Details dieses Gesprächs verschwinden in Wut, Verletzung und Scham. So wird er es später zusammenfassen.
Auch diese Dezembernacht ist vorbeigegangen. Die Kälte im Park kann er noch immer spüren, aber das Zittern hat nachgelassen, etwas zumindest. Mittlerweile ist Tag zehn nach dem definitiven Ende ihrer Ehe, die – wie er jetzt weiß – seit zwei Jahren eine auf zwei Kontinente und zwei Menschen aufgeteilte Ehe gewesen ist.
Ricarda ist fort. Nach Patagonien. Arbeiten. Er hat bis Heiligabend Zeit, die Kinder darauf vorzubereiten, dass sich das Leben ändern wird. Oder soll er warten, auf einen besseren Zeitpunkt nach den Weihnachtstagen? Wie sagt man seinen Kindern, dass es Mama und Papa nicht mehr als Elternpaar geben wird, sondern nur noch einzeln und für sich – entweder … oder? Dafür hat er noch keinen Text. Das hat er nie und nimmer vorgesehen im Drehbuch seines Lebens. Das ist ein Film, in dem er niemals eine Rolle haben wollte.
Harmonisch, humorvoll, doppelbödig. So kommt ihm die Familien-Bühne ihrer letzten Jahre vor. Warum gab es keine Chance zum Aufräumen hinter dieser Kulisse? Warum wurde nicht geputzt und gelüftet, sondern versteckt und zugedeckt?
Ricarda hat es zum Ritual gemacht, abends kurz vor acht Uhr mit den Kindern zu skypen. Die Mädchen freuen sich auf den Vormittag des 24. Dezembers, wenn sie Mama vom Flughafen abholen dürfen. Natürlich können sie es nicht erwarten, ihr in der Kirche vorzuführen, wie sie den jüngsten Hirten bestehlen wollen und dabei das Christuskind finden. |76| Immer wieder singen sie die Lieder vom Krippenspiel in das unscheinbare Kameraauge am Computer: »Goldnes Blatt vom Himmelsbaum, fiel zur Erde nieder / lief ich schnell nach Bethlehem, fand’s im Kripplein wieder …«
Der Vater meidet den digitalen Blickkontakt vollständig, bleibt im Hintergrund. Er sammelt stattdessen Unterlagen, um sich auf ein neues Leben als geschiedener Vater mit geteiltem Sorgerecht vorzubereiten. In der Rechtsberatung hat man ihm detailliert die nächsten Schritte beschrieben. Er funktioniert und arbeitet jeden dieser Schritte ab, mechanisch und rasend schnell. Ricarda hatte sich, und das ist sein Fazit, nach sieben Jahren Ehe, nicht an das gemeinsame Drehbuch gehalten. Er weiß, dass er Abstand dazu finden muss, dass er sich seine Frau schon seit zwei Jahren mit einem Menschen namens Elliot geteilt hat. Er will aber nicht teilen, das heißt, der andere wird sie nun ganz und gar erhalten. An diesem Punkt
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