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Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina-Maria Bammel
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wird. Ich mache Fehler, und manche davon wiederholen sich tatsächlich. Es ist nicht die einzige Einsicht, die an dir vorbeigegangen ist. Aber eins hast du mir voraus. Tu nicht so, als ob du nichts davon wüsstest, Jakob: Du weißt, wie es ist, wenn die Engel grüßen.
    |72| Das Ende von Weihnachten
    Die Hirten kehrten zurück,
    priesen und lobten Gott für alles,
    was sie gehört und gesehen hatten,
    so wie es ihnen gesagt worden war.
    Lukas 2,20

    Er hat noch eine Stunde. Eine Stunde, bevor er die Drillinge von der Schule abholen muss. Die drei kommen gut zurecht in ihrem ersten Schulhalbjahr. Sie haben Freunde, sie bringen jeden Tag neue Ideen mit, und sie haben sich gegenseitig – falls mal was schiefgehen sollte zwischen Klassenzimmer, Hof und Mensa. Über das Gesicht des nicht mehr ganz so jungen Vaters huscht ein zufriedenes Lächeln. Wie immer, wenn die Gedanken zu seinen Mädchen spazieren. In diesem Jahr werden alle drei zum ersten Mal beim Krippenspiel dabei sein – als Räuber. Das passt eigentlich ganz gut zu seinen Milchzahnmädchen mit den ewig auf dem Kopf herumrutschenden Mützen und den wuscheligen Haaren. Nur ab und an schimmert schon die Grazie der Mutter in den zarten Mädchen auf – selbst im Räuberkostüm.
    Was die Räuber an der Krippe anbelangt, hat sich das Krippenspiel-»Drehbuch« nicht ganz so eng an die biblischen Vorgaben gehalten. Macht ja nichts. Diese Art von künstlerischer Freiheit kennt der Vater schon von den Dreharbeiten seiner Frau an all den schönen und exotischen Plätzen dieser Welt. Seit die Drillinge da sind, war das Reisen schwerer geworden. Seit sechs Jahren sind eben andere Dinge wichtiger. Und er blieb gern bei den eigentlich wichtigen Dingen des Lebens – bei der Versorgung und Erziehung seiner Kinder.
    Noch eine Stunde! Die braucht er jetzt, um die allerwichtigsten Sachen für die nächste Krippenspielprobe gleich im Anschluss an die Schule zusammenzusuchen und um noch mindestens zwei Telefonate zu erledigen. Eine der |73| beiden Telefonnummern ist immer noch nicht eingespeichert. Es ist die des Vermieters. Wo kann die nur sein? Wenn seine sich perfekt gebende Frau da wäre, würde sie mit einem Handgriff wissen, wo zu suchen wäre. Und sie würde nebenbei etwas Spitzes bemerken über das Chaos ihres ansonsten so sortierten Mannes. Aber die Frau des Hauses ist schon wieder unterwegs. Der nächste Dreh in Patagonien beginnt in zwei Tagen. Letzte Einkäufe will sie noch machen, morgen fliegen und zum Glück vor Heiligabend wieder zurück sein. Sie muss doch mitfeiern, wie sich ihre drei Mädchen das erste Mal in voller Kirche präsentieren werden. Als er sich durch alle Zettel und Notizbüchlein gekramt hat, kommt der rettende Einfall: Ricarda hat die Daten der letzten Mails. Da wird doch irgendwo auch die Telefonnummer stehen. Er tut, was er sonst nie zu tun braucht, er fährt den Computer seiner Frau rasch hoch, klickt auf das blaue Briefmarkenzeichen unten rechts. Schon öffnet sich die Mailbox: »Sie haben Post.« Das interessiert den diskreten und jetzt auch wirklich etwas in Eile geratenen Vater natürlich nicht. Gerade will er die Suchfunktion in Gang setzen und tippt den Namen des Vermietungsbüros ein, da fallen ihm in einer gleich mehrmals aufgelisteten Mail-Adresse drei Buchstaben auf – miteinander verbunden durch je einen Bindestrich. Drei harmlose Buchstaben in einem Absender. Es wäre ihm wahrscheinlich nie aufgefallen, hätte diese Kombination nicht so oft untereinander gestanden. Was für ein verrückter Zufall!
    Es sind die Anfangsbuchstaben der Namen ihrer Mädchen, geformt zu so was wie … einer Kunst-Adresse. Die Geschichte hinter dieser Adresse, das wird dem stockenden Leser nun spätestens mit der zweiten Mail, die er jetzt doch öffnet, klar, ist die Geschichte eines anderen Lebens. Die häufigen Dreharbeiten in Südamerika, die ständigen Flugreisen, die Hälfte des vergangenen Jahres war Ricarda nicht zu Hause. Das entscheidende Detail zu diesen Fehltagen steckt in diesen Mails.
    Von der Drei-Buchstaben-Adresse werden offenkundig |74| die Briefe weitergeleitet in diese Box – alle mit ein und demselben Absender. Der Inhalt dieser Briefe ist in einem englischen Plauderton gehalten, den nur nahestehende Menschen miteinander teilen, sich sehr nahestehende Menschen. Wie dicht diese Nähe sein muss, wird dem Mann vor dem Bildschirm, der sich jetzt setzen muss, schlagartig bewusst: Das andere, das zweite Leben seiner Ricarda findet auf der

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