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Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina-Maria Bammel
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mich gerade.«
    Ich merke, was für Anne Trost ist: Gerade und aufrecht gehen zu können.

    |104| Ob sie etwas davon auch in den Gottesdiensten findet? Nach unserem ersten Gespräch sehe ich sie eine Zeit lang regelmäßig, dann wieder gar nicht. Manchmal ist sie da, manchmal wochenlang verschwunden. Wenn sie sich »zurückmeldet«, klingt es immer so, als ob sie ein schlechtes Gewissen plage. Ich bin meist machtlos gegen dieses schlechte Gewissen. »Nächste Woche komme ich aber wieder mal zu Ihnen«, meint sie beteuern zu müssen, und verspricht, dass wir uns am 24. im Spätgottesdienst sehen.
    Der Gottesdienst zur Heiligen Nacht findet in einer fast dunklen Kirche statt. Kaum einer erkennt den anderen. Ob sie da ist? Ich weiß es nicht.
    »Nur einmal das Gefühl haben, dass es wieder freundlicher kommen kann – und nicht noch schwerer«, wünschte sie sich zu Weihnachten. Das hat sie mir geschrieben.
    Dafür schien die Weihnachtsnacht für Anne nicht gemacht. Es kam nicht freundlicher, sondern zunächst noch etwas schwerer.
    Tage später erst werde ich davon erfahren.

    Unvorhersehbar war der Ausgang ihres letzten Besuchs an diesem Abend. Für Stunden, so kam es ihr vor, muss sie mit diesem Freier von einer Notaufnahme zur nächsten gefahren sein. Erst das dritte Krankenhaus hatte ihn aufgenommen. Der Mann hätte ihr in der eigenen Wohnung sterben können. Der Gedanke muss sie panisch gemacht haben. Dann aber gab es für ihn Hilfe hinter der Schiebetür: ein Team von Ärzten war nun mit ihm beschäftigt. Während Anne wartete und überlegte, ob sie einfach gehen sollte, wurde ihr der Flur zur stillen Laufstrecke – einmal hin, einmal zurück. Immer wenn sie an der Ostseite des Flures ankam, sah sie das unscheinbare Hinweisschild für die »Kapelle«. Als ob es gar nicht auffallen wollte, hing es zwischen all den banalen Ankündigungen, Wegweisungen und Informationen eines Krankenhausalltags. Anne fürchtete sich vor dem langen Fußweg durch die Stadt zurück in die Wohnung. Die Taxi-Odyssee dieser Nacht war bis hierher |105| schon viel zu teuer gewesen. Also nimmt sie auf dem Weg nach draußen doch noch einen Umweg: Die »Kapelle« zieht sie an.

    Die Stille im Raum am Ende des Flures ist wie ein Geschenk. Es ist die Krankenhauskapelle, und sie ist leer. Sie hat diesen Moment, den Altar, die Bilder an den Wänden, den Stern an der Decke und den Baum vorn im Altarraum für sich allein. Einen von knapp 40 Plätzen kann sie sich nun aussuchen. Anne wird in diesem Moment aufgefallen sein, wie unweihnachtlich die eigene kalte Wohnung im Hinterhof jetzt gerade sein musste. Ein Ort ohne jede Behaglichkeit, ein einsamer Arbeitsort, das Einzige, was sie hatte. So gut wie gar nicht vorstellbar wird es ihr gewesen sein, dorthin zurückzukehren.
    Die Krippenfiguren, jede für sich einen halben Meter groß, dort vorn auf den Stufen geben ihr Zeichen aus einer anderen Welt. Die gebeugten Hirten, die reichlich in rot und blau bekleidete Maria, selbst die Kamele der Sterndeuter … Vor allem das im Halbschatten liegende Gesicht des halbnackten Jungen mit Kindergesicht in der Krippe fasziniert sie. Das Christkind. Sie geht näher, streckt die Hand danach aus, nicht ohne vorher zu schauen, ob sie noch immer allein ist.
    »Es war so gar nichts Wundes an diesem Kindergesicht«, sagt sie mir später. »Ich hätte so gern mein Herz in diese Kinderhände gegeben. Das war mein Gebet; es hat mich still gemacht.«
    Sie wollte das Krippenkind keinesfalls stehlen. Als sie die Figur in ihren Schal wickelt, überlegt sie, worauf sie ihre Adresse schreiben könnte, wenigstens ihre Telefonnummer, damit man sie erreichen kann. Es soll ja kein Diebstahl sein! Was es allerdings sein soll, darüber wird sie sich in diesen Augenblicken keine Gedanken gemacht haben. Anne findet in den Taschen keinen Zettel und schon gar keinen Stift. So etwas trägt sie nicht dauernd bei sich. Im Nachhinein glaube ich ihr genau das!
    |106| Einen kaum noch lesbaren Fetzen ihrer eigenen Kontakt-Annoncen kramt sie dann aber doch aus der Hosentasche, ausgerissen wahrscheinlich von einem der Kunden. Liegengelassen, aufgehoben, noch nicht weggeworfen. Die Telefonnummer darauf ist noch gut zu erkennen. Sie streicht das billige Zeitungspapier ein bisschen glatt und legt es dann – die Nummer gut sichtbar – unter die gelben Halme in die Krippe.

    Durch diese Nacht muss sie gegangen sein, ohne zu frieren. Das Kind kam mit. Doch die Reise des Kindes, in Windeln gewickelt,

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