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Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina-Maria Bammel
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eintaucht – |111| morgens zum Beginn der Frühschicht und abends, wenn vor den Krankenhausfenstern die Parkbeleuchtung angeht – auch wenn dieser Kosmos ihr ein und alles ist, Abstand wird guttun. Das hat sie oft gedacht, wenn sie sich einfach in den Stunden zwischen zwei und vier Uhr erschöpft und matt auf eine der Kreißsaal-Liegen gelegt hat.
    Jetzt aber packt sie ihre Sachen und schickt eine kurze SMS an die Eltern. Die sind schon routiniert darin, vor dem »Weihnachtsstress« in den Urlaub zu fliehen. Dieses Jahr ist es Kapstadt. »Wir wollen nichts geschenkt bekommen zu Weihnachten, schon gar nicht irgendwelche Sprüche.« So deren Motto. Nina könnte es mitsprechen, wenn sie wollte.
    Nach dem Frühdienst wird sie das Flugzeug nach Wien nehmen und dort die Freunde treffen. Nicht alle, aber einige von ihnen kennt sie noch aus Studientagen. Der Treffpunkt ist vereinbart, die Tickets für die Weiterfahrt von Wien aus in der Tasche.

    Und noch jemand packt die Taschen, freut sich auf ein paar Tage mit den Skiern und hoffentlich gutem Schnee. Nichts wäre schrecklicher als im Hotel festzusitzen mit Leuten, die man nicht so gut kennt. Die Eltern haben auf ihn eingeredet wie auf einen störrischen Esel: »Nutz die Tage, Benjamin, verreise! Du musst doch mal raus. Uns besuchen kannst du auch noch nach Weihnachten. Keiner von uns, dein Bruder eingeschlossen, wird dir das krummnehmen …«
    Also lässt sich Benjamin tatsächlich einladen von seinem alten Studienfreund. Ein Experiment der Gefühle, ohne dass Benjamin Lust hat, auch nur ansatzweise darüber nachzudenken.
    Jetzt hat er jedenfalls die Tickets Richtung Wien und dann weiter in die Berge im Gepäck und trotzdem schon fast so etwas wie ein geteiltes Herz in der Brust. Zurück kann er nicht. Auch wenn man 39 Jahre ist … Einfach so Eltern und Bruder Heiligabend allein lassen? Sie haben es immer zusammen gefeiert. Und immer zu Hause! Andere |112| würden ihn vielleicht »kauzig« nennen. Er weiß das auch. Käuzchen singen wenigstens hin und wieder nachts. Der Vergleich ist also gar nicht so unpassend für ihn. Auch er hat nachts die besten Ideen.
    Der erste Tag am Skilift und an den Hängen ist perfekt. Die Freunde kommen gut miteinander klar. Am zweiten Tag sind die Schnee- und die Lichtverhältnisse fast noch schöner. Benjamin hat einen Blick dafür: »Vielleicht liegt es daran, dass heute der 24. ist …« Die anderen empfinden diese, wie die meisten von Benjamins Bemerkungen, nicht unbedingt als Geistesblitz, aber auch nicht als sonderlich störend. Keinem der Skiläufer ist der 24. so derart wichtig … Das hat man doch eigentlich hinter sich gelassen. Die Skilifte schließen trotzdem bereits gegen drei Uhr am Nachmittag. Man ist also zeitig zurück im Hotel. Fast ein bisschen zu zeitig. Den Leerlauf füllen die Mittdreißiger mit Schlaf und Wellness.
    Dunkel wird es in einer halben Stunde.
    Benjamin will noch einen kleinen Weg zu Fuß machen. Gerade hat er zu Hause angerufen. »Alles fröhlich«, hatte die Mutter gesagt und klang auch so. »Und deinem Bruder geht es einwandfrei!«
    Weil Nina nichts Besseres vorhat, begleitet sie Benjamin ins »Oberdorf«, wie die Einheimischen hier sagen. Von denen sieht man gerade nicht sehr viel. Sie sind alle in ihren Wohnzimmern verschwunden. Urlauber spazieren ziellos hin und her. Benjamin sieht die alte Kirche mit dem runden Türmchen. Licht ist schon an. Die erste Vesper ist um 17 Uhr, steht auf dem Schaukasten davor. Noch ist die Kirche leer. Nina kennt den Begriff der »Vesper« ausschließlich als Einheit für Mahlzeiten am Nachmittag. Seltsam, dass die Kirche so gänzlich offen steht, ohne dass jemand da zu sein scheint. Benjamin bewegt sich ganz vertraut in der Kirche. Sie setzen sich in die zweite Bankreihe und warten einen Moment. In der Kälte und langsam einsetzenden Dämmerung kann man den eigenen Atem gerade noch sehen. Benjamin unterbricht die Stille mit einem Flüstern. »Hast du |113| was dagegen, wenn ich etwas bete.« Im hinteren Raum klappt eine Tür, aber es stört nicht weiter. »Was denn?«
    »Das Vaterunser …?«
    »…«
    Und dann spricht Benjamin fast nicht hörbar diese Gebetsworte, die Nina mal in irgendwelchen Kinofilmen am Rande gehört hat, aber nie von allein zusammenbringen würde. Sie hört einfach zu und schaut auf die Krippe, wo auch die Magier stehen und das Kind liegt – mit rosigen Bäckchen … »und die Kraft und die Herrlichkeit …« So rosig sind die Bäckchen ihrer

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