Und sie wunderten sich sehr
schönster Moment …« So etwas liest sie hin und wieder auf den Geburtsanzeigen und kann das, was sie im Tag- und Nachtdienst am Kreißsaal erlebt, nicht so recht zusammenbringen mit dem, was die überschwänglichen Botschaften vom eingetroffenen Nachwuchs beschreiben. Sie kennt das Maß an Erschöpfung, an Erwartungen, die regelrecht in den Himmel steigen und dann abtauchen im Babygeschrei auf der Wöchnerinnenstation – morgens gegen vier Uhr. Und manchmal weiß sie nicht, |109| wer hier verzweifelter weint, Mutter oder Kind. Sie kennt auch das Maß an Überraschung auf den Gesichtern der Begleiter, meist der Väter, wenn sie das erste Mal ein kleines, durch die Geburt arg strapaziertes Baby in der Hand halten. Nicht der väterliche Mund, aber die Augen des Vaters sagen dann hin und wieder diesen einen Satz: »Ach, das hatte ich mir doch ein bisschen anders vorgestellt.«
»Willkommen in der Wirklichkeit!«, antwortet dann die Ärztin ebenfalls nur mit den Augen und fühlt sich gut, so nah an diesen Lebensgeheimnissen dran zu sein.
Sie sieht das Bündel Leben, ein kleines Kraftpaket, getaucht in Elternblicke. Sie sieht die Verletzlichkeit und das Nackte und sie weiß, einige Zimmer weiter geht es vielleicht gerade sehr unheil zu.
Sie kennt auch die akademisch hoch Qualifizierten, die – angefüllt mit wissenschaftlichen und praktischen Erfahrungen – morgens in Reih und Glied vor den Inkubatoren oder den Wärmebettchen stehen. »Wie die Magier im Stall!«, hat mal einer der Oberärzte gesagt und ein bisschen – was selten genug geschieht – gelächelt.
»Magier im Stall« fand sie seltsam. Ninas Eltern hatten die Tochter immer wissen lassen, was sie von Religion halten: nichts. Daher war der Nikolaus für Nina so etwas wie eine Kreuzung aus Rotkäppchen und Zwergnase, Weihnachten selbst einfach ein Fest, das – recht besehen – doch nur Familien feiern können? Oder ist es mehr so etwas wie eine weltweite Geburtstagsfeier? Egal.
Trotzdem hat die junge Ärztin ein Bild vor Augen: ein paar Fremde im Kniefall vor dem Kind. In verschiedenen Krippenvarianten hat sie es gesehen – mit Kamel, ohne Kamel, mit Krone, ohne Krone. Sie war Ende 20 als sie erfuhr, dass diese Männer aus dem Morgenland Namen haben. Zu peinlich war es ihr allerdings, jemanden, zum Beispiel den Oberarzt, zu fragen, ob das mit den Namen auch in der Weihnachtsgeschichte steht, also in der Bibel. Um es selbst einmal nachzusehen, war es ihr nicht wichtig genug.
Aber das Gefühl, etwas von einem dieser Magier zu haben, |110| beschäftigt sie doch mehr als einen Moment. Etwas davon entdeckt sie an sich und den Kollegen – wie die Magier von einst: Von ferne kommen sie über die Flure gepilgert, wie angereist aus einem anderen Land, dem Land der Erwachsenen und ihrer technischen Daten, Messinstrumente und Schmerzmittelkenntnisse, manchmal offen, manchmal insgeheim staunend über die wenigen Gramm verheißungsvollen, neuen Lebens – eine Verheißung aus einer anderen Zeit. Genau das scheinen ihr die Säuglingsgesichter auch zu erzählen, die längst noch nicht angekommen sind auf dieser Welt.
Ninas Großmutter in Ilmenau hat an Sommerabenden alte Geschichten zum Besten gegeben. Manche gut ausgedacht, manche zu fröhlich oder zu traurig, um nicht wahr zu sein. Und das kleine Mädchen von damals fragte dann regelmäßig ins Geschichtenerzählen hinein: »Wo war ich denn da?« Die Antwort der Großmutter kam prompt: »Da hast du noch Wolken geschoben.« Und jetzt steht sie am Inkubator all der ehemaligen Wolkenschieber, kennt deren Blutwerte, den Sättigungsgrad der Atmung, die Urinmenge, aber nicht die Träume dieser winzigen, von unten, oben, rechts und links gewärmten Menschen. »Was träumen eigentlich 700 Gramm menschlichen Lebens?« Diesen Gedanken lässt sie nur für das Zeitfenster eines Augenaufschlags zu, kennt den Lebenskampf dieses wenigen Gewichts, das da mit einem sehr ernsthaften, sehr geschlossenen Gesichtchen liegt. Denn dann muss sie los, zurück in den Kreißsaal und wieder nach Herztönen suchen bei der nächsten Schwangeren. Die Hebamme hat sie schon angepiept.
Während sie über den Flur läuft, die Hände in den Seitentaschen, freut sie sich auf die freien Skitage nach diesem vorerst letzten Nachtdienst. Mit Freunden will sie raus aus der im Winter besonders öden Stadt. Endlich mal wieder ein bisschen Sport machen, frische Bergluft – und keine Fragen um Leben und Tod.
Auch wenn sie gern in ihren Klinikkosmos
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