Und sie wunderten sich sehr
endete allerdings nicht in einer kalten Ein-Zimmer-Parterre-Wohnung …
Nach dem zweiten Weihnachtstag erschien sie wieder in der Kirche, in der ich sie einmal kennen gelernt hatte. Nach der Orgelmusik wartete sie am Ausgang auf mich. Ob es ihr gut ginge, wollte ich wissen. Ob sie mich sprechen könne, war ihre Antwort. Sie zeigte auf den Inhalt der Tasche und bat mich, diesen Inhalt wieder abzugeben in der Klinik. Es tue ihr sehr leid, aber sie habe ihn nur ausgeborgt. Die Angst ist zu groß, wieder an diesen Ort zurückzugehen. Man würde sie bestimmt nicht ohne Weiteres wieder gehen lassen. Sie könne sich einfach eine Überprüfung ihrer Personalien durch die Polizei nicht leisten … Sie wolle auch nichts erklären müssen. Das wiederum verstehe ich am allerbesten.
»Ich habe mir solche Vorwürfe gemacht. Ich war so dumm.« Sie sagt es mit vollem Ernst. Und ich spüre ihre Entlastung, als ich ihr die Tasche abnehme und verspreche, geradezurücken, was möglich ist.
Es ist leichter als gedacht. Die Madonna im blau-roten Mantel nimmt die Rückkehr des Windel-Knaben mit Gelassenheit, das Klinik-Personal ebenfalls. Man habe ja einen doppelten Satz Figuren, die sich auch nachbestellen lassen.
Als wiederum Anne dies erfährt, kann sie erleichtert |107| seufzen: »Manchmal wünsche ich mir genau so etwas für mein eigenes Leben – und für die Personen, die darin mitspielen: einen doppelten Satz Figuren, die sich auch einzeln nachbestellen lassen.«
Herztöne
Und sie gebar ihren ersten Sohn.
Lukas 2,7
Geburten sind ihr Beruf. Ein Traumberuf. Sie hat alle Chancen und den Facharzt fast in der Tasche. Sie ist 35, leidenschaftlich ledig und mit Abstand die am jüngsten aussehenden Assistenzärztin im Team. Wahrscheinlich liegt es an ihrer zarten Haut, den kurzen Locken und den hellwachen Augen, die binnen Sekunden eine Situation im OP oder im Kreißsaal erfassen können. Manchmal, wenn sie den Kreißsaal betritt, platzt es aus der einen oder anderen werdenden Mutter heraus: »Nicht noch eine Hebamme, ich will einen Arzt!« Dann lacht sie kurz, stellt sich höflich, aber routiniert vor – »Mein Name ist Dr. Nina Heldstein« – und wird ebenso schnell wieder zur Ärztin mit dem sicheren Blick und den mindestens genauso sicheren Händen. Sie ist fix und bedacht – selbst um drei Uhr morgens. Selbst dann, wenn wie auf scheinbar geheime Absprache innerhalb von zehn Minuten fünf Mütter gleichzeitig mit Blasensprung oder Vorwehen an der Stationstür klingeln. »Muss am Wetter liegen«, beruhigt sie dann die aufgeregten oder erschöpften Frauen.
Kurz vor der Geburt haben die Frauen nicht die Augen für die zarte, aber resolute Assistenzärztin, die mit ihrer Alt-Stimme gut Nachrichtensprecherin sein könnte. Die werdenden Mütter haben auch nicht das Ohr für den leichten Thüringer Akzent, den man hören kann, wenn die Ärztin spricht. Den ankommenden Frauen steht Arbeit bevor, |108| und die junge Ärztin hilft, überwacht, misst und muss immer wieder Herztöne finden, ihre Häufigkeit interpretieren oder deren Ausbleiben kommentieren. Das Letzte ist der härteste Teil der Arbeit: »Wir finden keine Herztöne mehr. Wir müssen davon ausgehen, dass Ihr Kind gestorben ist.« Wie oft hat sie sich Formulierungen überlegt, um diesen Moment mit Sprache zu füllen! Wie oft hat sie sich insgeheim gefürchtet vor der Reaktion der Mutter und doch gewusst, als Ärztin wird sie in ihrer Rolle bleiben und sagen, was die nächsten Schritte sind! Das wird erwartet. Sie hat gelernt, damit umzugehen, dass manche Frauen in solchen Momenten laut und schrill werden: »Ich will kein totes Kind in meinem Bauch. Nehmen Sie das weg.« Sie hat auch gelernt, damit umzugehen, dass andere Frauen sofort mit den vermissten Herztönen still werden – beängstigend still. So still wie das Kind, dass dann – obwohl tot, noch geboren werden muss. Eine Stillgeburt. Und die Stille danach ist dann wirklich das Schwerste.
Die Ärztin, die noch in den dunkelgrünen, irgendwie pyjamaartigen Krankenhausklamotten souverän wirkt, wirft auch das nicht aus der Bahn: »Ich nehme diese Geburten nicht mit nach Hause. Sie gehören dazu wie die anderen, die glücklichen Geburten. Bei denen können sogar Momente von Vollkommenheit im Kreißsaal entstehen. Davon bin auch ich berührt. Ganz und gar. Es hält für Sekunden.«
Es gibt Zeiten, da fragt sich Nina, wie wohl der Tag der Geburt ihres eigenen Kindes sein wird. »Unser glücklichster Tag, unser
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