Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
hält«, sagte Gallo. »Vielleicht einigt er sich sogar mit Dekker und fungiert als Strohmann für dessen dreckige Geschäfte.«
»Wir behalten ihn hier«, sagte der Commissaris. »So lange, bis wir was Neues in der Hand haben. Einen Hebel, mit dem wir einen Stein aus der Mauer brechen können, um sie zum Einsturz zu bringen.«
»Und wo willst du diesen Hebel herkriegen?«, fragte Gallo. »Von Hoofdinspecteur Dekker.«
»Dann«, sagte Gallo, »wird es höchste Zeit, dass du die hier wieder bei dir trägst, statt sie in deiner Schublade zu verstecken.« Er holte einen gefütterten Umschlag im DIN-A-4-Format aus einer Aktentasche auf dem kleinen Tisch in der Mitte des Raums und hieltihn Van Leeuwen hin. Das Kuvert war schwer, und es war unverschlossen, und als Van Leeuwen es öffnete, erspähte er den stumpfen schwarzen Glanz seiner 9mm Luger. Gallo erklärte: »Wenn du dir das nächste Mal wünschst, du hättest sie bei dir, möchte ich, dass du sie tatsächlich bei dir hast.«
Der Commissaris legte das Kuvert zurück auf den Tisch. »Hast du die Handynummer von Remko da?«
Julika gab Van Leeuwen die Nummer, und er ging zu dem Apparat an der Wand und wählte sie. Inspecteur Vreeling meldete sich nach dem dritten Freizeichen, aber die Verbindung war schlecht. Van Leeuwen versuchte gar nicht erst, sich höflich nach dem Befinden seines Untergebenen zu erkundigen oder ihn über die Natur seiner Arbeit in der Fremde zu befragen. »Remko, hör zu«, rief er, als könnte er die atmosphärischen Störungen mit gesteigerter Lautstärke auflösen. »Du nimmst doch gerade an so einem Euro-Seminar zur Terrorismusfrüherkennung oder wie das heißt teil, nicht? Da habt ihr doch bestimmt lauter riesige Computer und alle möglichen Programme –«
Von fern drang ein zerhacktes » – klar –« an sein Ohr, und er fuhr fort, zu brüllen: »Ich ermittle hier in einem Fall, in den eine Familie Sharma aus Indien verwickelt ist, und jemand vom Zoll wird nicht müde, die Firma Sharma & Sons in die Nähe von Terroristen zu rücken –«
»Wie hei – Inder?«
»Radschiv und Shak Sharma! Sieh mal nach, ob es über die irgendwas in euren Computern gibt. Und wenn ihr schon dabei seid, auch über einen Hoofdinspecteur –«
»– verstehe nicht – wer –?«
»Dekker!«, rief Van Leeuwen, aber Vreeling war aus der Leitung verschwunden und mit ihm auch das Rauschen und Knistern, da es die gesamte Leitung nicht mehr gab.
Der Commissaris legte den Hörer auf und wandte sich wieder Gallo und Julika zu. Aber ehe er etwas sagen konnte, vibrierte das Handy in der Brusttasche seines hellgrauen Leinensakkos. Das Handy vibrierte dicht an seinem Herzen, und es war das hellgraue Leinensakko,das er an diesem Tag trug. Obwohl er seit Wochen mit dem Anruf rechnete, traf er ihn in diesem Moment völlig unvorbereitet.
27
Er sah einen Mann, der zu seiner sterbenden Frau fuhr. Er sah, wie der Mann durch die Stadt fuhr – schnell, aber umsichtig –, und dann sah er, wie der Fuß des Mannes auf der Autobahn das Gaspedal ganz durchtrat. Er sah die Hände des Mannes auf dem lederüberzogenen Lenkrad. Er sah sie schalten und die Hupe betätigen und wieder schalten. Er sah die Fahrbahn vor der Kühlerhaube des braunen Alfa; silbergrau flog sie aus der sonnenbeschienenen Unendlichkeit auf ihn zu. Er sah Lastzüge und Tankwagen und Limousinen und Cabrios, denen er sich von hinten näherte, die er überholte, die im Rückspiegel kleiner wurden.
Es kam ihm vor, als wäre sein Leben abrupt aus der Spur gerutscht; es flimmerte an den Rändern, und der Ton hatte sich in ein Rauschen verwandelt. Vielleicht ist es falscher Alarm, dachte er. Sie hat sich bisher immer wieder erholt. Sie hat doch ein Herz wie eine Löwin.
Bitte , dachte er, bitte, lass sie nicht sterben. Bitte, lieber Gott, lass sie nicht sterben. Ich tue alles, was du willst, egal, was es ist, nur, lass sie jetzt noch nicht sterben.
In seinem alten Leben hatte er sich geweigert, zu beten. Aber vielleicht hatte Julika recht; vielleicht sollte er beten. Vielleicht half es. Aber auch in dem neuen, verwackelten Leben spürte er keinen Trost. Er spürte nur die Angst, die unter seinen Lidern brannte, während sie sein Herz umschloss wie eine kalte Schale. Die Schwerkraft war stärker in diesem Leben; sie zog ihn tief in den Wagen-sitz, lastete auf seinen Schultern und auf den Armen, auf seiner Brust.
Die Mittagshitze stieg wie schimmernder Dunst aus den Poldern. Der Himmel war blass, und die
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