Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
Commissaris das Summen der Leuchtröhren hören konnte und sogar das leise Zischen des verbrennenden Tabaks. Durch die geschlossene Tür drang das Bellen des Hundes vom Schrottplatz am Ende der Straße.
Van Leeuwen ergriff ihre Hand, bog ihr sacht die Finger auseinander, damit sie den angekohlten Filter fallen ließ, und wischte ihn von der Kassentheke auf den Boden, wo er die Glut austrat. Sie zuckte zusammen und sah ihn an, und dann alterte ihr Gesicht von einer Sekunde auf die andere. Die Schönheit war noch immer da, aber jetzt hatte sie Falten und kleine Risse wie ein Foto, das man zusammengeknüllt und wieder glatt gestrichen hatte. »Wer war das?«, fragte sie. »Wer hat das getan?
»Deswegen bin ich hier«, sagte der Commissaris, »um das herauszufinden.«
»Er hat nicht angerufen«, sagte sie, »seit drei Tagen nicht.« »Er konnte nicht anrufen. Er ist seit drei Tagen tot.«
»Seit drei Tagen ...«, wiederholte Carien.
»Ist er vorher schon mal für längere Zeit verschwunden?«, fragte Van Leeuwen.
»Nein, nie!«
»Warum haben Sie ihn nicht als vermisst gemeldet?«
»Hier, in Amsterdam?« Sie schluckte mehrmals hintereinander, als stiege ihr etwas die Kehle herauf, das sie unbedingt unten halten wollte.
»Mevrouw«, Van Leeuwen trat um die Theke herum, »Carien –«
»Lassen Sie mich.« Carien wich zurück. »Kommen Sie nicht näher, bitte ...« Sie schüttelte wieder den Kopf. »Das dürfen Sie nicht.«
Van Leeuwen blieb stehen. »Ich habe eine Kollegin draußen«, sagte er. »Eine junge Frau. Möchten Sie, dass ich sie hereinrufe? Möchten Sie lieber mit ihr reden?«
»Nein.« Carien holte eine weitere Zigarette aus der Packung, und es gelang ihr, sie zwischen den Lippen zu behalten, aber um sie anzuzünden, zitterte sie zu sehr, bis sie das Feuerzeug mit beiden Händen hielt. Die ganze untere Hälfte ihres Gesicht schien sich um den Filter zusammenzuziehen. »Nein. Ich will nicht mit ihr reden. Mit Ihnen will ich auch nicht reden. Ich will mit niemandem reden, mit niemandem.«
»Ich muss Ihnen trotzdem ein paar Fragen stellen«, sagte der Commissaris. »Und danach muss ich Sie bitten, uns zu begleiten, für die Identifizierung. Als Erstes brauche ich Ihren vollen Namen.« »Wozu? Wozu brauchen Sie meinen Namen?«
Statt zu antworten, holte Van Leeuwen sein Notizbuch aus der Jackentasche und klappte es auf.
»Carien Dijkstra«, sagte die junge Frau.
»Sie sind Niederländerin«, stellte der Commissaris fest. »Stammen Sie aus Amsterdam?«
»Haarlem.«
»War Amir Singh –«
»Wir haben uns geliebt«, sagte Carien. Ihre Stimme hatte einen staunenden Unterton, als wäre der Umstand, dass ein Mann und eine Frau sich liebten, ganz und gar ungewöhnlich. Das Bellen des Hundes auf dem Schrottplatz ging in ein helles Winseln über.
»Wie lange kennen Sie ihn schon?«
»Ich dachte, ich kenne ihn. Ich dachte, wir sagen uns alles ... die Wahrheit. Am Anfang ... Wir haben uns nicht sofort geliebt, am Anfang war es nur Mitleid –«
»Wann war das?«, fragte Van Leeuwen. »Wo haben Sie ihn kennengelernt?«
»Wo? Auf der Fähre zum Hauptbahnhof.«
»Welche Linie?«
»Auf der, die Tag und Nacht fährt. Die Buiksloterwegveer. Vor drei Jahren.«
Van Leeuwen sah sie prüfend an, ob sie noch die Kraft für die nötigen Fragen hatte. »Was für ein Mensch war er? Mit was für Leuten hatte er Umgang, wenn er nicht mit Ihnen zusammen war?«
»Er war ein guter Mensch«, sagte Carien.
Van Leeuwen sagte: »Er ist nicht getötet worden, weil er ein guter Mensch war.«
Diesmal schüttelte Carien den Kopf so heftig, dass etwas in ihrem Hals knackte, aber sie sagte nichts.
»Er war ein Sikh, nicht wahr?«, hakte Van Leeuwen nach. »Sikhs rauchen nicht, sie trinken keinen Alkohol, und sie nehmen auch keine Drogen. Ihre Religion verbietet es ihnen. Aber Amir hatte überall am Körper Einstichnarben von Injektionsnadeln, alte und frische. Und in seinem Magen haben wir Alkohol gefunden –«
»Das glaube ich nicht«, sagte Carien. Sie drückte ihre Zigarette in einem kleinen Aschenbecher neben der Kasse aus. Sie schwankte leicht und griff nach der Thekenkante, um sich festzuhalten. »Er war clean. Das hat er mir versprochen, immer wieder. Seit er aus dem Gefängnis kam, hatte er ein neues Leben angefangen.«
»Ja«, sagte Van Leeuwen. »Ein Doppelleben.«
»Was haben Sie mit ihm gemacht?«, fragte Carien. »Woher wissen Sie das alles? Woher wissen Sie, was in seinem Magen war?« Sie sah zu den Regalen
Weitere Kostenlose Bücher