Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
als sähen sie den Polizeiwagen nicht. Sie verschwanden im Schatten der Halle, und als sie wieder auftauchten, waren ihre Gesichter so leer wie ihre Hände, aber zwei von ihnen fehlten. Die anderen gingen zu dem Scania und luden weiter Kisten ab.
In dem Rolltor erschien noch ein junger Mann und schaute mit scharfen Augen direkt zu dem Streifenwagen herüber. Er trug eine schwarze Hose, ein weißes Hemd mit einem daumenbreiten Kragen und weiße Nappalederslipper. An seinem rechten Handgelenk glänzte ein Armreif aus poliertem Metall. Er stand halb im Schatten und halb in der Sonne und starrte auf den Polizeiwagen, ohne sich zu rühren. Auch als Van Leeuwen, Gallo und Julika ausstiegen, rührte er sich nicht. Es schien, als hätte er ihren Besuch erwartet.
Der Commissaris zückte seinen Ausweis und sagte: »Commissaris van Leeuwen, Hoofdbureau van Politie. Das sind Hoofdinspecteur Gallo und Brigadier Tambur. Wir möchten mit Radschiv Sharma sprechen.«
»Ich bin Shak Sharma, sein ältester Sohn«, sagte der junge Mann. »Mein Vater ist leider sehr beschäftigt, Mijnheer. Vielleicht kann ich Ihnen helfen?«
»Ich bin auch sehr beschäftigt«, antwortete der Commissaris. »Aber ich bin trotzdem hier, um mit ihm zu reden. Im Moment möchte ich, dass er mir hilft.«
Shak Sharmas Mundwinkel zuckten verärgert, als hätte man schon zu oft darauf bestanden, mit seinem Vater zu sprechen, wenn eigentlich sein Wort das größere Gewicht haben sollte. Er war großund stattlich, sein Haar schwarz und dicht. Er hatte ein scharf geschnittenes, männliches Gesicht mit einer kräftigen Nase, vollen Lippen und fast schwarzen, klaren Augen ohne erkennbaren Übergang von Pupille zu Iris. Es brauchte nicht viel, um diese Augen zum Lodern zu bringen. Er wusste, wie er wirkte, was er darstellte; trotzdem verlangte man nicht nach ihm. Er atmete hörbar aus. Dann nickte er und forderte den Commissaris mit einer Handbewegung auf, ihm in das Innere der Halle zu folgen. »Ich bringe Sie zu ihm«, erklärte Radschiv Sharmas ältester Sohn. »Aber sagen Sie mir wenigstens, was Sie von ihm wollen.«
»Es geht um einen Ihrer Angestellten, einen Mann namens Amir Singh.«
»Ah, deswegen sind Sie hier? Sie wollen zu Amir?«
»Nein, ich will nicht zu Amir«, sagte Van Leeuwen. »Wenn ich zu Amir wollte, würde ich in die Leichenhalle gehen. Da liegt er nämlich.«
Er brauchte einen Moment, um seine Augen an das Zwielicht in der Halle zu gewöhnen; der Sonnenschein blendete ihn noch, als er längst hinter Shak durch das Rolltor getreten war. Von innen wirkte die Halle viel größer als von außen. Durch die schmutzigen Fenster dicht unter dem Dach fiel nur spärliches Tageslicht herein, in dem Staubkörnchen tanzten. An den vier Wänden und auf der gesamten Lagerfläche standen Regale über Regale, deren obere Fächer nur mit Leitern zu erreichen waren. Jedes der Regale war mit unleserlichen Buchstaben beschriftet, vermutlich in Hindi. Eine Eisenbalustrade führte in halber Höhe der Halle um die Wände. Von einer Schiene an der Decke hing ein Flaschenzug.
Die Regale waren gefüllt mit Gefäßen in allen Größen und Formen, aus Glas, Metall und Holz. Die eckigen und runden Glasbehälter waren mit Deckeln oder Korken verschlossen, manche waren zusätzlich eingeschweißt, einige sogar versiegelt. Ihr Inhalt war grün und rot, braun, gelb oder violett. Es gab bunte Dosen und schlichte Holzkästchen, und zwischen den Regalen türmten sich Fässer aus Zinn und Kisten aus Holz. In der Luft hing der Geruch von Zimt und Curry, von Pfeffer, Zwiebeln, Paprika und Chili. Es war kühl und nicht zu hell in der Halle.
Neben dem Rolltor saß an einem Schreibtisch aus zerkratztem Mahagoni ein schlanker Mann, der den hereinfallenden Sonnenschein als Arbeitslicht nutzte. Er trug ebenfalls eine schwarze Hose und ein weißes Hemd mit einem kaum sichtbaren Kragen, dazu eine zugeknöpfte schwarze Weste und einen sorgfältig geschlungenen Turban aus safrangelbem Tuch. Auch an seinem Handgelenk schimmerte ein Metallreif. Er saß auf einem schlichten Holzstuhl, vor sich ein Telefon, ein altmodisches Kassenbuch und einen Stapel von Lieferscheinen und Zollzertifikaten, außerdem ein Glas mit grünem Tee. Es fehlte nur ein Abakus, dessen Kugeln er beim Rechnen hätte hin-und herschieben können.
Als Van Leeuwen eintrat, sah er auf, und jetzt erkannte der Commissaris, dass der Mann älter war, als es aufgrund seiner Figur den Anschein gehabt hatte. Seine
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