Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
gerngehabt.«
»So gern wie mich und Shak?«, fragte eine Stimme aus der Dunkelheit neben dem Rolltor.
»Nein, nicht so gern wie dich, Pamit«, sagte der Gewürzhändler.
Jetzt erkannte der Commissaris einen Jungen, der auf einem Stapel von Säcken an der Wand lag wie auf einem Diwan. Der Junge hatte lange schwarze Locken und verstörte braune Augen, groß wie Kastanien. Sein Gesicht war noch nicht ganz ausgeformt, ihm fehlte die Schärfe seines Vaters oder seines älteren Bruders. Aber als er sich aufrichtete, sah der Commissaris, dass er größer war, als seine Stimme vermuten ließ. Wie Shak trug er eine schwarze Hose und ein weißes Hemd, er war jedoch barfuß. Dreizehn, dachte der Commissaris, vielleicht vierzehn.
»Das ist mein jüngerer Sohn Pamit«, erklärte Radschiv Sharma, und diesmal war es weniger Stolz als Fürsorge, die in seiner Stimme mitschwang.
Pamit stand auf, schob die Hände in die Hosentaschen und schlenderte zu Shak, und dabei tat er, als nähme er die Besucher gar nicht wahr. Er lächelte nicht, und er sah auch niemanden an, bis er bei seinem Bruder war. Erst als Shak ihm den Arm um die Schulter legte, warf der Junge Van Leeuwen einen kurzen glänzenden Kastanienblick zu: Das ist mein großer Bruder, und jetzt komm, wenn du was willst!
»Tag, Pamit«, sagte der Commissaris.
Pamit antwortete nicht; stattdessen sagte er etwas zu Shak, wahrscheinlich auf Hindi, und Shak nickte. Beide lachten.
»Was hat er gesagt?«, fragte Van Leeuwen.
»Gehört die junge Frau zu Ihren Beamten?«, fragte Radschiv Sharma.
»Ja.«
»Er hat gesagt, sie sieht seltsam aus.«
»Das finde ich auch«, sagte Van Leeuwen und stellte zufrieden fest, dass Brigadier Tambur errötete. »Ein kluger Junge.«
»Und ein unhöflicher«, ergänzte Radschiv und sah Pamit an. »Wir reden Hindi, wenn wir allein sind, sonst nicht.«
»Ist er hier geboren?«, fragte der Commissaris.
»Shak und Pamit, beide sind hier geboren, und ihre Mutter Vharma ist hier gestorben.«
»Das tut mir leid«, sagte Van Leeuwen.
»Es braucht Ihnen nicht leidzutun«, sagte Sharma. »Sie hat immer ihre Pflicht getan, und am Ende war sie müde. Ich habe sie geliebt, aber jetzt liebe ich Mira. Sie ist auch Inderin.«
»Das geht niemanden etwas an«, sagte Shak scharf.
»Vharma ist mit mir hierhergekommen, aus Delhi, vor einem halben Leben«, fuhr sein Vater fort, nicht trotzdem, sondern ganz selbstverständlich, wie jemand, der es gewohnt war, Widerspruch nicht wahrzunehmen. »Mirabal ist hier geboren.«
»Mein Vater war Inder, meine Mutter ist Niederländerin«, sagte Mira, als erkläre das, warum sie mit einem so viel älteren Mann zusammen war. »Mein vollständiger Name ist Mirabal Kristin Ha-lawi.«
»Nachdem jetzt alle Familienverhältnisse geklärt sind, können Sie ja endlich Ihre Fragen stellen, Commissaris«, verlangte Shak ungeduldig. Pamit nickte und bedachte Van Leeuwen mit einem ruckartigen Kopfnicken. Tu, was mein Bruder dir sagt!
Der Commissaris holte sein Notizbuch heraus, klappte es auf und sah hinein, l’art pour l’art , denn die Seiten waren leer. »Wenn ich richtig informiert bin, handeln Sie mit Gewürzen, Mijnheer Sharma. Sie führen Sie ein und verkaufen sie an Restaurants, Feinkostläden, Betriebsküchen –«
»Ich verschenke sie praktisch, Mijnheer Commissaris«, fiel ihm der Inder ins Wort. »So wie ich hier vor Ihnen stehe, bin ich ein armer Mann. Gewürze sind wie Frauen, sie locken und duften, sie verleihen den Speisen des Lebens ihren einzigartigen Geschmack, sie verführen einen, und man gibt ein Vermögen dafür aus, aber am Ende steht man mit leeren Händen da.«
»Ganz so leer scheinen Ihre Hände ja nicht zu sein«, meinte der Commissaris, ohne Mira oder die Gewürzberge in der Halle besonders ins Auge zu fassen. »Wie lange hat Amir Singh für Sie gearbeitet?«
»Gearbeitet?«, wiederholte Shak unbeherrscht. »Bestohlen hat er uns!«
»Shak!« Radschiv Sharmas Stimme klang wie ein Peitschenschlag. »Entschuldigen Sie, Mijnheer, Kinder vergessen manchmal, wo ihr Platz ist – so stolz, so unbeherrscht! Ja, ich habe Amir bei uns aufgenommen. Eines Morgens erschien er hier auf dem Hof – wann wird das gewesen sein? Vor einem Monat vielleicht – und fragte, ob ich nicht vielleicht Arbeit für ihn hätte. Er sagte, er sei eben erst angekommen, aus dem Punjab, und kenne niemanden in Amsterdam. Er trug das Zeichen der Sikhs. Ein Sikh hilft dem anderen, müssen Sie wissen, besonders unter solchen
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