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Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall

Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall

Titel: Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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haselnussfarbene Haut wurde von vielen kleinen Fältchen durchzogen; das unter dem Turban hervorlugende Haar schimmerte weiß. Doch gegen diese sichtbaren Zeichen eines Alters jenseits der sechzig erhoben seine Augen Einspruch, junge Augen von einem strahlenden, durchdringenden Grün, die den Rest seines Gesichts jeglicher Wirkung enthoben: die schmalen Lippen, die kräftige, gebogene Nase, die hohen Wangenknochen, die zerfurchte Stirn, alles war nur der Rahmen für ihren wissenden Glanz. »Ja, bitte, Mijnheer«, sagte er mit einer sanft schneidenden Stimme, »ich bin Radschiv Singh Sharma. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
    »Tag, Mijnheer«, sagte der Commissaris, »ich bin hier, weil wir nach –«
    »Doch nicht dahin, ihr Dummköpfe!«, rief Sharma zwei jungen Männern zu, die eine schwere Kiste zu einem Regal im vorderen Teil der Halle schleppten. »Könnt ihr denn nicht lesen? Das sind Anissamen, keine Ingwerwurzeln! Die kommen zum Kümmel aus Südamerika! Habt ihr denn nichts anderes im Kopf als Tabak, Bier und duftende kleine Schwalbennester?!«
    »Du darfst sie nicht immer so anschreien«, sagte eine Frau, die unvermittelt aus den Schatten hinter dem Schreibtisch auftauchte. »Es sind doch noch Kinder, Radscha.«
    »Ich weiß, Mira«, sagte Sharma, und jetzt war seine Stimme nicht mehr schneidend, sondern mild, fast reuig. »Aber es sind so dumme Kinder.« Er stand auf, höflich, gut erzogen. Dann wandte er sich wieder dem Commissaris zu. »Entschuldigen Sie bitte, Mijnheer. Meinen ältesten Sohn Shak haben Sie ja schon kennengelernt. Er ist mein Augenlicht, der ganze Stolz eines jeden Vaters. Gewiss haben Sie noch die Zeit und die Geduld, auch mein Herzenslicht kennenzulernen, Mirabal, der ganze Stolz eines jeden Mannes, gleich, ob alt wie ich oder jung wie meine Söhne?«
    Shak seufzte ungehalten, aber Sharma ignorierte ihn, und Van Leeuwen sagte: »Ich habe die Zeit und die Geduld, Ihre ganze Familie kennenzulernen, Mijnheer Sharma, und außerdem noch jeden Ihrer Angestellten, wenn es der Aufklärung meines Falls dient.«
    Mirabal, der ganze Stolz eines jeden Mannes, trat auf den Commissaris zu und nahm ihn so genau in Augenschein, dass er sich fragte, ob sie Gedanken lesen konnte. Seine Gedanken sagten nämlich, schön, schön, schön, und sie sagten es beschämend klar und deutlich: eine schöne Frau, ungewöhnlich schön. Oder: schön auf ungewöhnliche Weise.
    Sie war vielleicht Ende zwanzig und dünn, ohne knochig zu wirken, aber flachbrüstig wie ein Junge. Eine gamine , so hatte man ihren Typ zu der Zeit genannt, als er noch so jung gewesen war wie sie. Ihr Haar war schwarz, und sie trug es kurz geschnitten, aber nicht zu kurz; hin und wieder schob sie ein paar seitliche Strähnen mit einer fließenden, selbstverständlichen Bewegung hinter die Ohren zurück. Ihre grauen Augen hatten die Farbe einer Regenwolke. Das Eindrucksvollste aber war der Mund, dessen zart geschwungene Lippen der Sehnsucht in ihrem Blick entsprachen. Einer Sehnsucht, die so tief und schmerzlich wirkte, dass sie fast einem Geburtsfehler glich. Ein angeschlagener Schneidezahn vermochte nicht, die Schönheit dieses Gesichts zu stören.
    Mirabals Haut war halb so dunkel wie die von Sharma und seinem Sohn und glatt wie Perlmutt. Ihr Schwanenhals verschwand in einem hautengen schwarzen Matrosenhemd, zu dem sie eine weite, bunte Hose trug. Die nackten, kleinen Füße steckten in gelbenRiemensandaletten. Amir und die Schönheit der Frauen, dachte Van Leeuwen, oder die Frauen von abwechslungsreicher Schönheit, die vom Gewohnten abwich. Konnte das eine Spur sein?
    »Und was für ein Fall ist das, den Sie aufklären wollen, Mijnheer?«, fragte sie.
    »Der Fall eines toten Inders«, antwortete Van Leeuwen. »Seine Leiche wurde auf einem Hausboot nicht weit von hier gefunden.« »Es gibt viele Inder in Amsterdam«, sagte Mirabal.
    »Jemand, der für mich gearbeitet hat, ist tot?«, fragte Radschiv Sharma. »Wer?«
    »Amir«, warf Shak mit einem verächtlichen Zischen ein. »Dein dritter Sohn.«
    Alle drei standen einen Moment nur da, reglos und ohne eine Reaktion zu zeigen, als wären sie ganz überraschend in eine Falle geraten, in der das kleinste Zucken weiteren, schlimmeren Schmerz zur Folge haben konnte. Endlich löste sich Radschiv Sharma aus seiner Erstarrung und schüttelte müde den Kopf. Er warf Van Leeuwen einen bekümmerten Blick zu. »Er war nicht mein Sohn, nicht mein Fleisch und Blut, aber ich habe ihn

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