Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
stählerne Armreif. Er stellte das Tablett mit den Tellern ab und nahm dafür eins mit zwei dampfenden Gerichten entgegen, das vor ihm auf der Durchreiche stand. Er ließ sich nicht anmerken, dass er tot war, obwohl die vielen Schnitte in seinem Gesicht schon aufgehört hatten zu bluten, genau wie der Schnitt am Hals.
Geschmeidig bewegte er sich mit dem Tablett zwischen den Tischen, an denen noch immer niemand saß, außer ganz in der Nähe der Tür, wo die beiden Männer und die junge Frau Platz genommen hatten, aber zu denen trug er das Tablett nicht. Er trug es zu überhaupt niemandem, und während Van Leeuwen ihm noch mit den Augen folgte, löste er sich auf wie ein Geist.
»Irgendwann hat auch ein Pechvogel wie Amir mal Glück«, bekräftigte Kapur noch einmal.
»Wenn er wiedergeboren wird«, sagte der Commissaris. »Aber ich weiß nicht, ob ich ihm das wünschen soll.«
Kapurs Frau schaute ihn verwirrt an. »Amir ist tot?«, fragte sie dann nach einer kurzen Pause.
»Jemand hat ihm die Kehle durchgeschnitten«, sagte Van Leeuwen, »mit einem Schälmesser mit einer kurzen Vogelschnabelklinge.« Er zog eine seiner weißen, in Blau und Gold bedruckten Visitenkarten heraus und legte sie auf die Tischkante. »Falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich an. Die Namen und Adressen ihres Personals und von Amirs damaligen Kollegen schicken Sie mir bitte ins Präsidium.«
Er verließ die Küche durch die Tür neben der Durchreiche. Gallo und Julika Tambur standen vor dem Fernsehapparat und verfolgten die Pressekonferenz des Hoofdcommissaris auf Nederland 3. Das Bild war noch bunter geworden. Die Farben changierten metallisch flimmernd zwischen Dunkelrot und Dunkelblau, und mit der Bollywood-Schlagermusik aus den verborgenen Lautsprechern wirkte es, als hätte Joodenbreest sich in den Hauptdarsteller eines Hindimusicals verwandelt, der live in die Mikrofone seiner glühendsten Fans sang.
»Was sagt er?«, fragte Van Leeuwen.
»Das, was du ihm gesagt hast«, antwortete Gallo. »Aber so, als hätte er es herausgefunden.«
»Warum treten Sie eigentlich nie im Fernsehen auf?«, fragte Julika. »Aus Bescheidenheit?«
»Aus Stolz«, sagte der Commissaris.
8
Als sie fast auf der anderen Seite des IJ-Tunnels waren, sagte Hoofdinspecteur Gallo: »Bruno, du bist der Stellvertretende Polizeichef von ganz Amsterdam-Amstelland. Dir unterstehen fünf Distrikte mit 32 Revieren und einigen Hundert Beamten, die für dich von Tür zu Tür gehen und nach Amir Singh fragen können. Es gibt keinen Grund, warum du in diesem Stadium der Ermittlung selber das Pflaster treten und Detailfragen stellen musst. Dein Platz ist am Schreibtisch.«
»Ich bin gern auf der Straße«, antwortete Van Leeuwen. »Deswegen bin ich Polizist geworden.«
»Aber wenn du selbst Anfangsermittlungen persönlich durchführst, lässt du jeden Surveillant, Agent, Hoofdagent, Brigadier und Inspecteur, der unter deinem Kommando steht, schlecht aussehen. Als würdest du ihren Fähigkeiten misstrauen und ihre Kompetenz in Frage stellen.«
»Die Arbeit bei der Polizei ist kein Schönheitswettbewerb«, sagte Van Leeuwen. »Es geht nicht darum, wer besser aussieht. Ich habe mich nie darum gerissen, Commissaris zu werden, aber zumindest hat mein Rang den Vorteil, dass ich tun kann, was ich will, solange es die Ermittlungen nicht gefährdet. Joodenbreest und die anderen Taliban halten einen Schreibtisch vermutlich für ihren artgerechten Lebensraum, aber mein Reservat ist die Stadt. Ich gehe gern durch die Straßen. Ich fahre auch gern nachts mit der Straßenbahn oder mit dem Bus herum und sehe nach dem Rechten, und wenn in Amsterdam ein Mord passiert, dann pflüge ich jeden Pflasterstein eigenhändig um, bevor die schlechte Saat in den Furchen weitere Früchte trägt. Ich sitze nicht untätig herum und starre auf mein Telefon, während andere sich für mich die Füße wund laufen und eine Spur nach der anderen kalt wird.«
Er sagte das in ruhigem, gelassenem Ton, wie er fand, etwas lauter als sonst vielleicht, um den Verkehrslärm im Tunnel zu übertönen. Vor seinem inneren Auge sah er die Leiche Amir Singhs, den zugedeckten Körper auf der Bahre in der Gerichtsmedizin und dasMädchen Carien, das noch eine Zeit lang bei ihm bleiben wollte, um sich zu verabschieden.
»Musst du wieder eins von deinen Versprechen einlösen?«, fragte Gallo.
Van Leeuwen schwieg. Die blasse Tunnelbeleuchtung fiel in den Wagen, und in der Windschutzscheibe spiegelten sich
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