Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
Umständen, in der Fremde. Außerdem, Mira – meine Mirabal, sie ist die Güte selbst – hätte niemals zugelassen, dass ich ihn wegschicke.«
»Er war dünn, man konnte sehen, dass er Hunger hatte«, sagte Mira. »Und obwohl es sehr warm war, ein wirklich warmer Tag, trug er einen Pullover mit langen Ärmeln, als wäre ihm kalt. Er hatteetwas in den Augen, das einen denken ließ, es wäre eine Sünde, ihn wegzuschicken.«
Was für eine Sünde?, dachte Van Leeuwen. Wie viele Frauen mochte der Tote so beeindruckt haben, dass sie ihn aufnehmen wollten? Hatte er gewusst, wie leicht es ihm fiel, die Tür zu ihren Herzen zu öffnen?
»Wenn ich ein anderer Mann wäre«, unterbrach Radschiv Sharma seine Gedanken, »ein eifersüchtiger Mann, hätte ich ihm die Wahrheit gesagt: dass die Arbeit kaum für meine Familie reicht, denn so ist es.«
Unvermittelt löste Pamit sich von seinem Bruder, kehrte seinem Vater und Van Leeuwen den Rücken zu und ging zu einer Seitentür unter der Eisenbalustrade. Ohne sich noch einmal umzuschauen, verschwand er durch die Tür. Shak sah ihm nach, dann schnippte er leise mit den Fingern. »Mira, geh zu ihm, pass auf, dass er nichts anstellt.«
Kurz hatte es den Anschein, als wollte Mira sich seiner Anweisung widersetzen, sie überlegte es sich jedoch offenbar anders. Sie blieb nur einen Herzschlag lang auf gleicher Höhe mit Shak stehen und starrte ihn an. Sie standen so dicht beieinander, dass Van Leeuwen ihre Mienen nicht sehen konnte, aber einen Herzschlag lang wirkten ihre Körper unnatürlich verspannt. Dann löste Mira sich aus Shaks Nähe und ging ebenfalls zu der Seitentür unter der Balustrade.
Draußen wurde ein Lastwagen angelassen, aber es war nicht auf dem Hof der Sharmas. Ein Hund bellte, verstummte und bellte wieder.
»Wenn Sie ein anderer Mann wären«, griff der Commissaris Sharmas Faden wieder auf, »wenn Sie nicht mit leeren Händen dastehen würden, obwohl Sie vielleicht das Monopol für den Gewürzhandel in ganz Amsterdam oder sogar für die ganzen Niederlande haben –«
»Das ist nur Schein«, unterbrach ihn Radschiv Sharma, »das Auge sieht, was es sehen will. Als Amir vor vier Wochen über diesen Hof dort draußen auf die Halle zukam, sahen meine Augen einen jungen Mann, einen schönen jungen Mann, dessen Schicksal michberührte, weil es Mira berührte. Ich fragte ihn, ob er etwas von Gewürzen versteht, und er sagte Ja, aber ich wusste, dass er nicht die Wahrheit sagte, dass er log, weil er nicht wusste, wo er hin sollte. Weil er Hunger hatte. Ich wollte, dass Mira gut von mir denkt, deshalb habe ich gesagt, er kann bei uns anfangen.«
Shak sagte: »Mein Vater kann nicht Nein sagen, wenn Mira Ja sagt.«
Radschiv nickte, als hätte sein ältester Sohn nur ein allseits bekanntes Naturgesetz zitiert. »Ich habe es nicht bereut. Amir war ein guter Arbeiter, fleißig, gelehrig. Er hat schnell begriffen, was den Wert eines Gewürzes ausmacht. Schon nach wenigen Tagen ist er mir ans Herz gewachsen wie ein –«
»Sohn«, sagte Shak wieder.
»Nein, wie ein Schüler, der zu einem Freund wird.«
»Sie haben ihn also an jenem Morgen zum ersten Mal gesehen?«, fragte Hoofdinspecteur Gallo nach. »Sie kannten ihn nicht von früher, keiner von ihnen?«
»Nein«, antwortete Sharma, und Shak schüttelte nur den Kopf. »Auch Mira nicht?«
»Nein.« Der alte Gewürzhändler schüttelte den Kopf.
»Das kannst du nicht wissen«, sagte Shak.
»Sie hätte es mir gesagt«, widersprach sein Vater. »Nein, keiner von uns war Amir Singh vor diesem Morgen je begegnet. Nie.«
Van Leeuwen fragte: »Wussten Sie, dass er mit einer Frau zusammenlebte? Einer jungen Niederländerin, die ein Kind von ihm erwartet?«
»Nein, das wusste ich nicht«, sagte Sharma überrascht. »Ich dachte, er kennt niemanden außer uns.«
»Er betrieb mit ihr nicht weit von hier eine Videothek«, sagte Brigadier Tambur.
»Und er hat sich auch nichts zuschulden kommen lassen in der Zeit, in der er für Sie gearbeitet hat?«, fragte Van Leeuwen. »Sie hat-ten nichts an ihm auszusetzen und wollten ihn auch nicht entlassen?«
Sharma hob beide Hände. »Nein, nein, im Gegenteil –«»Wie lange ist er schon tot?«, fiel Shak ihm ins Wort.
»Drei Tage«, sagte Van Leeuwen. »Er starb in der Nacht von Freitag auf Samstag der letzten Woche.«
»Woran ist er überhaupt gestorben?«, erkundigte sich Sharma. »Er war doch noch jung!«
»Er wurde ermordet«, erklärte der Commissaris. »Jemand hat ihm die
Weitere Kostenlose Bücher