Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
carissima , amore mio ... Ein halbes Dutzend, handgeschrieben, deren Übersetzung ihm die Schamesröte ins Gesicht trieb: Er hatte nicht gewusst, dass Simone solche Worte kannte; dass sie so mit sich reden ließ.
»Ich hatte ein Gefühl, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen«, sagte er, »als hätte ich keinen Halt mehr, keine Verbindung zu irgendetwas. Wie diese Astronauten, die in den Filmen im All davontreiben und sich langsam überschlagen, während sie immer kleiner werden, bis man sie nicht mehr sehen kann. Der kleinste Windhauch hätte mich umpusten können, und ich wusste nicht, was ich dagegen tun sollte.«
»Wenn Sie schon mit Simone nicht darüber sprechen konnten, haben Sie mit jemand anderem darüber gesprochen? Oder haben Sie je versucht, diesen Sandro aufzuspüren?«
»Ja, aber es hat zu nichts geführt.« Van Leeuwen dachte daran, wie er nach Siena gefahren war, zusammen mit Simone, in der Hoffnung, sie könnte sich erinnern, wenn sie erst wieder da war. Sie hatten viele Reisen unternommen, früher, nach Paris, Rom, zum Prado in Madrid, aber nie waren sie glücklicher gewesen als in Siena. Der Arzt hatte gesagt, es könnte den Verlauf der Krankheit verlangsamen, aber es war wohl schon zu spät gewesen. Er hatte sich an alles erinnert, an jede Umarmung, an jeden Kuss; ihr Gesicht war leer geblieben. »Ich war so wütend«, sagte er leise. »Ich habe nachts an irgendein Geschäft gehämmert, mit der Faust gegen die Tür, nur weil auf einem kleinen Schildchen im Schaufenster stand, dass der Vorname des Inhabers Alessandro war.«
»Haben Sie denn ...«, Ten Damme wählte seine Worte sorgfältig, »haben Sie in der ganzen Zeit nicht selbst hin und wieder an eine andere Frau gedacht? An eine Affäre?«
»Gedacht, ja, wahrscheinlich habe ich das«, antwortete Van Leeuwen. »Ich habe darauf gewartet, dass meine Gefühle für Simone vergehen, bloß, das sind sie nicht. Wenn ich nichts mehr für sie empfunden hätte, dann hätte ich vielleicht auch eine Affäre haben können. Aber Liebe kann man doch nicht einfach an-oderabschalten. Wahrscheinlich liegt das daran, wie wir aufgewachsen sind ...«
»Sie meinen, wie Sie erzogen worden sind?«, hakte Ten Damme nach.
»Nein, ich meine unsere Kindheit, unsere Jugend damals«, sagte Van Leeuwen. »Auf dem Land musste man sehr schnell erwachsen werden, besonders früher. Es gab noch keine Konsum-und Spaßgesellschaft, die es darauf anlegt, einen möglichst lange infantil zu halten und die Pubertät bis kurz vors Rentenalter auszudehnen, nur damit man ununterbrochen Geld für Zeug ausgibt, das man nicht braucht. Wir lernten uns kennen, und wir verliebten uns ineinander, und das war ein Versprechen, keine Soap mit Werbeunterbrechungen. Wir haben erst spät miteinander geschlafen, und das war das nächste Versprechen. Kurz darauf haben wir geheiratet – das letzte Versprechen. In einer Zeit wie heute, in der Mädchen mit zwölf schwanger werden und Männer mit fünfzig nach Videospielen süchtig sind, gibt es offenbar keine Schwelle zum Erwachsen-werden mehr, und wahrscheinlich kann man dann auch seine Gefühle an-und abschalten, weil man gar nicht mehr weiß, was Liebe heißt.«
Der Arzt schwieg und nickte nachdenklich. Dann fragte er: »Bevor Sie Ihre Frau zu uns gebracht haben, wie wurde sie da versorgt? Sie waren doch nicht den ganzen Tag zu Hause?«
»Nein. Ich hatte eine Pflegerin – Ellen –, die sich tagsüber um sie gekümmert hat. Aber Simone ist immer wieder weggelaufen, ich konnte sie einfach nicht mehr bei mir behalten und gleichzeitig meine Arbeit so tun, wie es von einem Polizisten verlangt wird. Irgendwann hatte sie sogar vor Ellen Angst.«
»Alzheimerkranke haben ständig Angst«, bestätigte der Arzt. »Es gibt ja nichts Vertrautes mehr in ihrem Leben, alles ist ihnen fremd geworden. Sie sind wie Kinder, die sich unter der Bettdecke verstecken, weil ihnen der Schatten eines Astes im Wind vor dem Fenster entsetzliche Angst einflößt. Manchmal, wenn ich hier nachts durch die Gänge gehe, höre ich Schreie aus den Zimmern, aber wenn ich nachsehe, gibt es keinen Grund für die Schreie, jedenfalls keinennachvollziehbaren. Nur diese elementare Todesangst, die von der kleinsten Kleinigkeit ausgelöst werden kann.«
Van Leeuwen dachte an Goyas Miniaturen von den Kellern spanischer Irrenhäuser, von den halb nackten Gestalten mit seelenlosen Gesichtern, die ebensolche verzweifelten Schreie auszustoßen schienen. Dorthin habe
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