Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
geschminkten Lippen um den Stiel des Teelöffels geschlossen. Ihr Gesicht hatte an Klarheit verloren, es wirkte erstarrt, gleichgültig wie das einer Löwin.
Sie bückte sich zu ihrem Koffer, und als sie sah, dass er noch da war, hob sie den Blick wieder, und jetzt fiel er geradewegs auf Van Leeuwen, der nur ein paar Meter von ihr entfernt stand. Sie zog die Mundwinkel nach oben wie zu einem Lächeln, doch es entstand nur eine Clownsmaske, eine traurige Wunde, wo die zu breit bemalten Lippen eine künstliche Wärme vorgaukelten. Ihr Blick war leer und verschlossen, fast abweisend. Sie nahm den Löffel nicht aus dem Mund.
»Liebling«, sagte er leise.
Sie sah ihn abwartend an. Die Katze hörte auf, sich zu putzen, musterte ihn ebenfalls und schlenderte dann gelangweilt davon.
»Bruno«, sagte er. Ein kurzes Leuchten ging durch ihre Augen, es flackerte auf und erlosch wieder, so schnell, dass er es sich vielleicht nur eingebildet hatte. Aber auf ein Lächeln wartete er vergeblich.
Vielleicht kann sie nicht mehr lächeln, dachte er. Vielleicht hat sie einfach vergessen, wie es geht. Vielleicht hat sie das auch noch vergessen. Aber er wollte, dass sie ihn anlächelte, denn was war ein Wiedersehen ohne das, und deswegen versuchte er, es ihr vorzumachen: ein ansteckendes Lächeln. Er gab sich alle Mühe, und beinahe gelang es ihm, bis seine Lippen zu zittern begannen und er sie fest zusammenpressen musste, um sie wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er konnte es auch nicht. Er hatte nicht vergessen, wie es ging, aber er konnte es nicht mehr, nicht jetzt.
Die Frau, die Simone gewesen war, blinzelte. Plötzlich erinnerte sie ihn an einen Nachtvogel, der angespannt in die Dunkelheit spähte. Sie kann mich gar nicht nicht sehen, dachte er. Sie erkennt mich nicht . Er schüttelte seine Erstarrung ab und trat auf sie zu. »Liebling«, sagte er noch einmal.
Sie nahm den Löffel aus dem Mund und legte ihn neben sich auf die Bank. »Mein Mann kommt«, sagte sie.
»Er ist schon da«, sagte Van Leeuwen. »Ich bin dein Mann. Wollen wir ins Wohnzimmer gehen?«
»Wohnzimmer«, bestätigte sie nach kurzem Zögern. Sie stand auf und sah sich verloren um. Sie erhob keinen Einspruch, als er ihre Hände nahm, auch nicht, als er sie an sich zog und sie auf die Stirn küsste. Er spürte, wie seine Augen zu brennen begannen. Er wollte sie umarmen, so lange festhalten, bis sie sich an ihn erinnerte; bis sie wie früher war. Er wollte sie lachen sehen. Stattdessen ging er vor ihr in die Hocke und band ihr die Schnürsenkel zu, erst am linken Schuh, dann am rechten.
Als er sich wieder aufrichtete, spürte er seine Kniegelenke. »Früher ging das leichter«, sagte er. Dann griff er nach ihrem Koffer, dessen Gewicht verriet, dass er leer war. »Komm«, sagte er.
In dem kleinen, schlicht eingerichteten Wohnzimmer waren sie allein. In einer Ecke neben der Couch brannte eine Tischlampe mit einem Schirm aus altrosa Segeltuch. Es war noch nicht spät, erst kurz nach zehn. Simones Mitbewohnerinnen schliefen trotzdem schon, sodass er sich nicht wie früher zu ihr ans Bett setzen konnte. Es gab nur ein Schlafzimmer für sechs Patientinnen. »Ich habe Die Schatzinsel mitgebracht«, sagte er.
Sie zeigte keinerlei Reaktion, und das stimmte ihn noch trauriger. »Doktor Ten Damme hat mir erzählt, du möchtest mir etwas sagen.« Er führte sie zu der Couch, und sie setzte sich. »Was könnte das wohl sein, hm?« Er wusste, dass er auf diese Frage keine Antwort erwarten durfte; er stellte sie mehr sich selbst zuliebe.
Sie sah ihn an. »Muss bald schlafen«, erklärte sie.
»Das ist alles?« Er schüttelte den Kopf. »Deswegen habe ich mir den weiten Weg hierher gemacht? Weißt du, wie lange man von Amsterdam aus unterwegs ist? Übrigens, der Wagen fährt immer noch wie eine Eins, nur das Verdeck schließt nicht mehr richtig. Was war das eigentlich für eine Katze eben da draußen? Gehört die jemandem, den du kennst? Ich habe heute einen Hund gesehen, der dir das Herz gebrochen hätte. Ein paar Kinder haben ihn mit Steinen beworfen. Ich weiß nicht, woher diese ganze Grausamkeit kommt ...«
Er hielt inne.
Sie runzelte die Stirn, das war alles, und was sollte sie ihm auch zu sagen haben. Er bereute es trotzdem nicht, dass er gekommen war. Er stellte den leeren Koffer neben den Couchtisch und setzte sich zu ihr. Er holte die zerlesene Taschenbuchausgabe von Stevensons Schatzinsel aus der Jackentasche. Als sie noch bei ihm gelebt hatte, war das ihr
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