Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
Scheinwerfer hoben fahrbare Kräne mit Eisendraht gebündelte Rohre, Zementsäcke und vollbeladene Paletten mit Baumaterial aus schwarzen Laderäumen. Die Stadt wuchs weiter und weiter, wurde auf Betonpfeilern ins Wasser gebaut.
Bei der Börse bog der Commissaris nach links in die Oude Zijde. Zwischen den Häusern lockten die roten Lichter der Wallen. An einem erleuchteten Imbissstand blieb Van Leeuwen stehen, denn plötzlich fiel ihm ein, dass er seit dem Mittag nichts mehr gegessen hatte. Er bestellte eine doppelte Portion gebackene Muscheln mit Senf. Er war der einzige Kunde, und während er zusah, wie der Mann hinter dem Tresen die Muscheln in eine Pappschale schaufelte, spürte er sein Herz in der Brust pochen. Hastig griff er nach der Schale, durch die er die Hitze der ölgetränkten Muscheln fühlen konnte. Er wusste, dass er sich die Zunge verbrennen würde, und so kam es.
»He, Chef«, sagte eine leise Stimme hinter ihm, »Chef, willste poppen? Frischfleisch, Chef, kannste alles mit machen, was du willst, ganz billig –«
Der Commissaris drehte sich um, den Mund voller Muscheln. Vor ihm stand ein schlanker Junge, vierzehn Jahre höchstens, der ihm ein leeres Lächeln zeigte. Der Junge trug eine schwarze Lederjacke über einem weißen Muskelshirt, Jeans mit ausgefransten Löchernund schmutzige weiße Turnschuhe. Strähnige blonde Haare fielen ihm bis auf die Schultern, und seine großen blauen Augen waren so leer wie sein Lächeln.
»Mach, dass du wegkommst«, rief der Mann vom Imbiss, »hau ab, verschwinde, oder ich rufe die Polizei!«
»Die Polizei ist schon da«, sagte Van Leeuwen kauend. Mit der freien Hand griff er in die Brusttasche seines Leinensakkos und wedelte mit seinem Ausweis. Der Junge sagte »Scheiße«, duckte sich weg und war im nächsten Moment in der Dunkelheit verschwunden.
Der Mann vom Imbiss sah ihm nach, dann schüttelte er traurig den Kopf. »Amsterdam ist nicht mehr, was es mal war«, sagte er.
»Nichts ist mehr, was es mal war«, sagte der Commissaris. Er steckte den Ausweis wieder ein, bezahlte und ging das kurze Stück bis zur Warmoesstraat mit der Pappschale in der Hand, und dabei dachte er, dass vieles trotzdem gleich blieb, auch wenn es sich änderte.
Die Coffeeshops und die Sexläden, die Videotheken und Pubs und billigen Hotels waren, was sie immer gewesen waren, und die Männer und Frauen, die dort ein und aus gingen, waren auch, was sie immer gewesen waren. Der Geruch von Marihuana und Erbrochenem und verschüttetem Bier war, was er immer gewesen war, und das Gedränge vor den roten Fenstern ebenso. Die Liveshows in den Clubs rechts und links vom Voorburgwal zeigten, was sie immer gezeigt hatten, und die kaum bekleideten Frauen in den rot oder blau leuchtenden Zimmern hinter den großen Fenstern an dem schmalen Pflasterstreifen neben der Gracht verkauften, was seit jeher ihre begehrteste Ware war.
Männer und Frauen waren, was sie immer gewesen waren. Liebe war, was sie immer gewesen war.
Mord war, was er immer gewesen war.
Auch Ehebruch war, was er immer gewesen war.
Es ist so schwer, weil ich nicht genug weiß, dachte Van Leeuwen. Er dachte: Je mehr man weiß, desto leichter wird es vielleicht. Selbst wenn es um die eigene Frau ging; selbst wenn es darum ging, dass sie einen mit einem anderen betrogen hatte.
Am Anfang hatte sein Zorn ihm Kraft verliehen. Wut und Empörung und der Schmerz, alles hatte ihm Kraft verliehen. Aber er konnte sie nicht dazu einsetzen, die Wahrheit herauszufinden, obwohl das sein Beruf war, ein Beruf, in dem er sich auszeichnete. Es gab niemanden, den er fragen konnte. Es gab keine Antworten, nicht einmal Ausflüchte oder Lügen, die er entkräften konnte.
Er wollte wissen, warum. Er wusste von einem Mann, Sandro; einer Frau, Simone; und er wusste von den Dingen, die sie miteinander getrieben hatten, denn es gab Briefe, in denen alles stand. Aber er wusste nicht, warum. Und der einzige Mensch, den er fragen konnte, hatte alles vergessen.
Auch nach Mitternacht war das Gedränge in den Gassen rings um die Oude Kerk noch immer groß. Dicht nebeneinander schoben sich Männer und auch ein paar Frauen unter den Ulmen am Ufer der Gracht entlang, die Gesichter gerötet im Widerschein der Fenster. Betrunkene Engländer von jenseits des Kanals, kichernde Japaner von der anderen Seite der Welt, torkelnde Drogenfreaks von einem fremden Planeten, dazwischen schwarze Zuhälter mit Goldketten, Strichjungen aus Thailand, junge Chinesen mit kal-ten
Weitere Kostenlose Bücher