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Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall

Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall

Titel: Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Ritual gewesen: Er las ihr die ersten Seiten aus dem Roman vor, bis sie einschlief – Sätze, die gleichzeitig beruhigend vertraut und immer wieder neu waren.
    »Bist du Bruno?«, fragte sie plötzlich mit veränderter Stimme.
    »Ich bin Bruno.« Er schlug das Buch am Anfang auf und setzte sich so, dass das Licht der Lampe auf die Seiten fiel. Mit ruhiger Stimme las er: » Unser Gutsherr, Baron Trelawney, Doktor Livesay und die übrigen Herren drangen in mich, eine genaue Darstellung unserer Reise nach der Schatzinsel niederzuschreiben und nichts auszulassen als die Angabe ihrer Lage, und auch das nur, weil dort noch ungehobene Schätze liegen –«
    Simone gab einen Laut von sich, ein merkwürdiges leises Fiep-sen. Er blickte auf und sah etwas in ihren Augen, das ihm den Atem stocken ließ. Die Augen waren braun, von einem tiefen, glänzendenBernsteinbraun, aber es war nicht die Farbe, die ihm den Atem raubte. Es war die Art, wie sie ihn ansah. Er hätte schwören können, dass er einen furchtbaren, unerträglichen Schmerz darin erblickte, als hätte sie für einen winzigen Moment erkannt, wie es um sie stand, wie es um sie beide stand.
    Sie streckte ihre Hand aus, langsam, und legte sie ihm zärtlich an die Wange. »Koffer«, sagte sie, und noch einmal: »Koffer«, mit einer Dringlichkeit in der Stimme, die er von früher kannte, wenn ihr etwas äußerst wichtig gewesen war.
    Dann war der Schmerz verschwunden, der Glanz wurde matt. Alles, was blieb, war das Bernsteinbraun. Sie ließ die Hand wieder sinken, aber er wusste, dass er die Berührung noch lange spüren würde wie den Schmerz in einem aufgeschürften Knie.
    »Es hat wieder einen Mord gegeben«, sagte er leise. »Ich leite die Ermittlungen.«
    Sie begann geistesabwesend zu summen. Mit der linken Hand strich sie sich die eingebildete Haarsträhne hinter das Ohr.
    »Weißt du noch, wie du mich früher immer ausgefragt hast, wenn ich einen neuen Fall hatte? Ich musste dir alles haarklein erzählen – wer, wann, was, wo, warum. Und je länger ich mit dir darüber gesprochen habe, desto mehr habe ich selbst begriffen. Du warst mein Doktor Watson. Das fehlt mir.« Er sprach leise, wie sie es mochte. Sie hielt den Kopf ein wenig schräg, als höre sie genau zu. Ihr Gesicht spiegelte eine Aufmerksamkeit wider, die nur dem Klang seiner Worte galt.
    »Ich glaube, die Leute, die ich heute befragt habe, haben mich belogen«, sagte er.
    »Nicht so schlimm«, sagte sie; eine der Redewendungen, die sie noch manchmal benutzte, wenn sie Ärger in seiner Stimme zu hören glaubte. Aber trotzdem: Einen Moment lang wurde er wütend. »Du hast mich auch belogen«, sagte er, und danach schwieg er, bis er sich wieder beruhigt hatte. »Lügen ist schlimmer als vergessen.«
    »Vorlesen«, verlangte sie.
    »Noch mal?«
    Er seufzte, schlug das Buch wieder auf und las: » Unser Gutsherr, Baron Trelawney, Doktor Livesay und die übrigen Herren drangen in mich, eine genaue Darstellung unserer Reise nach der Schatzinsel niederzuschreiben und nichts auszulassen als die Angabe ihrer Lage, und auch das nur, weil dort noch ungehobene Schätze liegen ...«
    Fünf Minuten später sah er auf, und diesmal war nichts passiert, kein jäher und schrecklicher Sturz in die Erinnerung. Sie saß neben ihm, und ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter. Vorsichtig streckte er die Hand nach einem Klingelknopf an der Wand aus, um einen Pfleger zu rufen, denn in das Schlafzimmer durfte er nicht mit ihr gehen. »Schlaf gut«, flüsterte er, den Mund in ihrem Haar, »und träum nicht von ungehobenen Schätzen.«
     
    Ten Damme saß noch an seinem Schreibtisch und arbeitete, aber als Van Leeuwen klopfte und das Büro betrat, stand der Doktor auf, nahm die Pfeife aus dem Mund und kam dem Commissaris entgegen. Er trug eine burgunderrote Strickjacke mit wildlederverstärkten Ellbogen über einem beigen Baumwollhemd mit längst faserig gewaschenem Kragen, eine braune Cordhose und graue Turnschuhe mit roten Schnürsenkeln. Dichte Schwaden von Pfeifenrauch hingen in dem nur von der Schreibtischlampe erleuchteten Büro.
    »Mijnheer van Leeuwen.« Ten Damme streckte seine schlanke Hand aus, die der Commissaris heftig drückte. Der Doktor wurde erst blass, dann rot, bevor er die Hand aus Van Leeuwens Griff befreite. »Herrje, das tut weh. Lassen Sie ’s bitte nicht an mir aus.«
    »Das ist barbarisch«, entfuhr es Van Leeuwen. »Barbarisch, un-menschlich und würdelos. Grausam. Eine solche Krankheit, womit hat man das

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