Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
ich meine Frau verbannt, dachte er, und ich bin nicht bei ihr, um ihr die Angst zu nehmen.
Als könnte er seine Gedanken lesen, sagte Ten Damme: »In solchen Momenten kann ihnen niemand beistehen, im Gegenteil, die Hilflosigkeit der Angehörigen macht alles nur noch schlimmer. Es ist ein Wunder, dass Sie es überhaupt so lange ausgehalten haben.«
Van Leeuwen erinnerte sich an den Abend, an dem er bemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte; an dem ihnen beiden klar geworden war, dass ihr Leben sich veränderte. Simone war wie immer in ihr Arbeitszimmer gegangen, um einen Artikel für ihre Zeitung zu schreiben, aber statt des fröhlichen Ratterns der elektrischen Schreibmaschine hatte er nur Stille gehört, eine beängstigende, ungewöhnliche Stille, die sich dehnte und dehnte. Schließlich hatte er an ihre Tür geklopft. Als auch daraufhin keinerlei Reaktion erfolgt war, hatte er die Tür geöffnet und eine Frau gesehen, die ihm einen Moment lang vorkam wie eine Fremde: Aufrecht saß sie vor der eingeschalteten Maschine, die Hände im Schoß gefaltet. Tränen glitzerten in ihren Augen. »Kannst du mir sagen, was ich hier machen soll, jetzt?«, fragte sie ängstlich und hoffnungsvoll zugleich. »Hier steht: von Simone van Leeuwen ... Bin ich das?«
Er erinnerte sich an die folgenden Ereignisse, als wären sie gestern geschehen, obwohl sie drei Jahre zurücklagen. Wie Simone nicht mehr nach Hause zurückgefunden hatte, wenn sie weggegangen war. An die vielen Zettel in ihren Taschen, auf denen stand, was sie tun musste, damit niemand merkte, wie viel sie nach und nach vergaß. An das Namensschild, das er mit seiner Telefonnummer an ihrem Handgelenk befestigt hatte, und an die Anrufe im Präsidium, wenn sie jemandem in der Stadt aufgefallen war, weil sie weinend an einer Kreuzung stand und nicht mehr wusste, welche Richtung sie einschlagen sollte und was sie dort vorfinden würde.
Er entsann sich der zahllosen Besuche bei Ärzten, aus denen dann nach und nach Spezialisten geworden waren; das endlose Warten in stillen Vorzimmern, auf harten Bänken in weißen Klinikkorridoren. Weiß: die Farbe des Todes, des langsamen Sterbens von Hoffnung und Glück, die Farbe der Verzweiflung.
»Mijnheer van Leeuwen?«, drang die Stimme des Arztes in seine Erinnerungen. »Wollen Sie sich nicht doch lieber hinsetzen? Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?«
»Sie hat mich vor mir selbst bewahrt«, sagte Van Leeuwen. »Jeder Mord verändert einen. Egal, wie viele Leichen man schon gefunden hat und wie sie zugerichtet waren, es wirft einen jedes Mal wieder aus der Bahn. Man verliert die Sicherheit, weiß nicht mehr, wer man ist – eine Zeit lang. Wenn ich abends nach Hause gekommen bin, wenn sie mich angesehen hat, dann wusste ich wieder, wer ich war. Ich habe es in ihren Augen gesehen. Sie stellte das Gegengewicht dar. Wenn ich wieder wusste, wer ich war, wusste ich auch, warum ich das war. Für sie wollte ich Holland sicherer machen, nicht die ganze Welt, nur unser Land – ein bisschen wenigstens. Stellvertretend für alle anderen natürlich, denn wenn ein Mensch einen gewaltsamen Tod findet, dann ist das eine Wunde, die uns allen geschlagen wird, allen Menschen, egal, wo. Und wenn man diese ganzen Wunden aus nächster Nähe mit ansehen muss ...« Er schob die Hände in die Hosentaschen und richtete den Blick auf das Fenster in die Nacht. »Ihr verdanke ich es, dass ich kein verbitterter alter Bulle geworden bin.«
Ten Damme paffte die nächste Rauchwolke auf das Fenster zu; um den Pfeifenstiel bildete sich ein Schmunzeln. »Ich glaube, Sie haben Ihrer Frau gerade ein ziemlich großes Kompliment gemacht.«
»Leider wird sie davon auch nicht wieder gesund.«
Der Arzt betrachtete Van Leeuwen abwägend. »Ich will Ihnen kei-ne Hoffnung machen«, sagte er bedächtig, »aber in Amerika haben Forscher einen ersten Durchbruch bei der Bekämpfung von Alzheimer erzielt. Ich will Ihnen deswegen keine Hoffnung machen, weil es sich nur um eine Serie von Versuchen an Mäusen handelt, und bis die Ergebnisse in Experimenten mit Menschen überprüft werden können, wird es noch einige Jahre, vielleicht Jahrzehnte dauern.«
»Was ist das für ein Durchbruch?«, fragte Van Leeuwen, bemüht, nicht zu aufgeregt zu klingen.
»Sie wissen ja, das Grundübel bei Alzheimer sind die Eiweißablagerungen, die sich auf den Nervenzellen bilden. Die Zellen schwellen an und können keine elektrischen Signale mehr aussenden, mittels derer die Botschaften in
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