Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
gelassen, und als du am Tisch vorbei zum Ausgang gegangen bist, wollte er dich festhalten. Nur dass wir schneller waren ... Über den ganzen Bahnsteig haben sie uns gejagt. Schon auf der Treppe und unten in der Bahnhofshalle brannte uns die Brust vom Laufen, aber wir sind immer weitergerannt, bis wir auf dem Dam waren und in Sicherheit.
Da stand mitten auf dem Platz ein Feuerschlucker und blies Flammen in die Winterluft wie Drachenatem. Er trug nichts außer einer speckigen Lederhose mit Fransen und Stiefeln, und das Feuer stieg in hohen Flammen aus seinem Mund, doch die Schneeflocken schienen unversehrt hindurchzuschweben. Aus dem Eingang einer Kneipe drang Musik auf die Straße, und ich weiß noch genau, wie ich mich fühlte, als du mich an dich gezogen hast, um mit mir zu tanzen. Meine Stirn lag an deiner Brust. Die Schlittschuhe hatten wir uns um den Hals gehängt, und irgendwie gerieten sie immer zwischen uns, während wir langsam auf der Stelle traten und hinter uns der Drachen Feuer spuckte. Dann haben wir uns wieder geküsst, zum hundertsten Mal an diesem Tag, und weil ich mir eben noch im Café die Lippen nach gezogen hatte, war dein Mund danach rot in der Kälte, als hättest du Kirschen gegessen.
Auf einmal hast du gemerkt, wie ich gezittert habe vor Fieber, und du hast mir deine Lederjacke um die Schultern gelegt, über meine dünne Windjacke, und der Schnee fiel immer dichter, aber Amsterdam erschien uns trotzdem wie die schönste Stadt der Welt, voller Liebe und Licht.
Damals wusste ich, dass ich in meinem Leben nur noch dich haben wollte, den Jungen, den Mann, den Liebhaber, den Beschützer und den Schutzbedürftigen. Es war wie ein jäher Glücksstoß, und ich dachte, der reinste Irrsinn. Wenn man verliebt ist, kommt man sich immer vor, als würde man gerade die Welt neu erfinden. Als hätte noch nie vorher ein Kuss so viel bedeutet, ein Herz dabei so wild geschlagen, ein Geschenk einen so tief berührt. Aber du hast wirklich eine neue Welt für mich geschaffen, und lange Zeit habe ich mir Mühe gegeben, ihrer würdig zu sein, das habe ich wirklich.
Dieser Abend, dachte ich, dieser und noch viele andere und die Tage davor und die Nächte danach – sie werden nicht verblassen wie alte Fotos oder an den Rändern zerfasern wie zu oft gelesene Briefe. Ich sammle einen Schatz an kostbaren Momenten, und wann im-mer ich will, kann ich ihn heben, den Rost abkratzen, den Tang wegwischen und in meinem Reichtum schwelgen.
Das war unser erstes gemeinsames Weihnachten in Amsterdam, als wir nicht genug Geld hatten, um jeden Tag zu heizen. Ich weiß nicht, warum mir jetzt gerade das eingefallen ist. Vielleicht, weil es nie wieder so war.
In Liebe, Simone
Der Commissaris ließ den Brief sinken. Sie hat es gewusst, dachte er. Sie wusste, was mit ihr geschehen wird, und sie hat nicht gekniffen, auch nicht vor mir. Das Gefühl der Verlassenheit, das ihn den ganzen Abend erfüllt hatte, fiel von ihm ab. Plötzlich verlangte es ihn nach ihr; es verlangte ihn nach ihrem Gesicht, ihrer Berührung, dem Lächeln in ihren Augen. Es verlangte ihn nach dem Gefühl,dass sie da war, nur ein Zimmer weiter; es verlangte ihn nach ihrer Nähe.
Er ging zurück ins Wohnzimmer, schenkte sich noch ein Glas ein und nahm es mit in die Diele. Dort setzte er sich auf den Holzboden und holte das Telefon zu sich herunter. Fast drei Uhr nachts war eine gute Zeit, um seiner Frau zu sagen, dass er sie liebte. Aus dem Gedächtnis wählte er die Nummer der Klinik. Er lauschte dem Klicken der Relais und dem Klingelzeichen am anderen Ende der Leitung.
Er war jetzt in einer friedvollen, fast heiteren Stimmung. Der Brief hatte die Faust, die er seit einem Jahr in der Brust getragen hatte, geöffnet. Das ferne Läuten erschien ihm wie eine Reihe kleiner Zärtlichkeiten, die er Simone zuwarf, bis sie erwachte. Sie war ihm früher oft vorgekommen wie ein See, in den er seine Gesten der Liebe fallen ließ und zusah, wie sie den Grund erreichten, bevor sich ein Lächeln auf der Oberfläche ausbreitete. Sie konnte so viel davon vertragen.
Am anderen Ende der Leitung wurde abgehoben. Eine verschlafene Stimme meldete sich: »Klinik De Bleerinck . Doktor Ten Damme am Apparat.«
»Ich muss dringend mit meiner Frau sprechen«, sagte der Commissaris. »Bruno van Leeuwen hier.«
»Commissaris! Wissen Sie, wie spät es ist?«
»Kurz nach drei«, sagte Van Leeuwen. Warum wollten Leute, die man mitten in der Nacht anrief, immer die Uhrzeit wissen?
Weitere Kostenlose Bücher