Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
eingeholt, und nun musste er seinen Fang sortieren und schauen, was er davon gebrauchen konnte und was er am besten wieder ins Meer zurückwarf. Er trug das Telefon von der Konsole in der Diele zum Couchtisch, wo er in seinem Notizbuch nach der Nummer der Sharmas suchte. Er wählte, und als Radschiv Sharma sich meldete, sagte er: »Commissaris Van Leeuwen hier. Nur um ganz sicherzugehen – Amir Singh ist tatsächlich erst am Tag nach der Zollrazzia bei Ihnen aufgetaucht? Er hat nicht doch schon vorher bei Ihnen gearbeitet?«
»Es war so, wie ich es Ihnen gestern gesagt habe. Er kam am nächsten Abend.«
»Ich frage das, weil Hoofdinspecteur Dekker von der Douane das Gegenteil behauptet, nämlich, dass Amir schon davor bei Ihnen angestellt gewesen sei und am Tag danach zu ihm gekommen wäre. Außerdem verdächtigt er Sie des Opiumschmuggels –«
»Warum sagt er so was?!« Radschiv Sharma verschluckte sich vor Aufregung. »Er irrt sich, oder er lügt! Er ist böse, ein böser Mann, und er lügt! Das Blut soll mir in den Adern zu Asche werden –«
Einer von beiden lügt in jedem Fall, dachte der Commissaris, nachdem er aufgelegt hatte. Wir haben zwei einander widersprechende Aussagen, und jetzt müssen wir überlegen, wem wir Glauben schenken und wem nicht. Aber warum sollte Dekker lügen? Haben die Sharmas nicht viel mehr Grund zu lügen, weil sie Verbrecher sind, die Rauschgift schmuggeln und einen Informanten des Zolls aus dem Weg geschafft haben, genau wie Dekker gesagt hat?
Und wenn es doch Hoofdinspecteur Dekker war, der gelogen hatte? Der Commissaris rief Gallo an: »Bruno hier. Tu mir einen Gefallen, Ton, und versuch, so viel wie möglich über Henk Dekker herauszufinden – seit wann er beim Zoll arbeitet, was er vorher gemacht hat, wie seine Beurteilungen sind, ob es schon mal Beschwerden über ihn gab und so weiter. Aber diskret, hörst du, er darf auf keinen Fall Verdacht schöpfen. Und ich brauche ein Foto von ihm, möglichst neuen Datums.«
»Ein Foto? Wofür willst du das denn haben?«
»Ich will es Carien Dijkstra zeigen. Ich bin mir inzwischen ziemlich sicher, dass Dekker der Mann aus Amirs Vergangenheit ist, du weißt schon, der in der Videothek aufgetaucht ist.«
»Warum fragst du ihn nicht einfach?«
»Hab ich schon. Er sagt, er war’s nicht, aber ich glaube ihm nicht. Ich glaube niemandem, der Boote an Haltestellen verlässt, wo keine sind.« Van Leeuwen sah zum Fenster hinüber. Ein Fischreiher schwebte aus der Dämmerung herab und ließ sich mit gelassenem Flügelschlag im Geäst der Ulme nieder. »Wie weit sind wir inzwischen mit dem Mercedes der Sharmas?«
»Kein Mercedes, keine Tatwaffe, nichts«, antwortete Gallo. »Ach, apropos Beurteilung – der Ayatollah hat dein Büro heute Nachmittag kurz mit seinem Glanz erhellt, der sich beträchtlich eintrübte, als keiner von uns ihm sagen konnte, wo du eigentlich steckst. Offenbar wartet er auf deine Beurteilungen unserer allgemeinen Fähigkeiten und Unfähigkeiten. Ein erster Hauch von Winter in seiner Stimme.«
»Nobody knows the trouble I’ve seen« , sagte Van Leeuwen.
»Nobody knows but Gallo« , ergänzte der Hoofdinspecteur.
»Ich habe Carien Dijkstra für morgen früh ins Büro bestellt«, beendete der Commissaris das Telefonat. »Sieh zu, dass du bis dahin ein Foto von Dekker auftreibst, am besten aus dem Computer, aber ohne überall im Netz deine Fingerabdrücke zu hinterlassen.«
Er sagte Gute Nacht und legte auf. Er betrachtete noch einmal seinen Fang. Inzwischen glaubte er Carien, und wenn sie die Wahrheit sagte, log Dekker zumindest in ihrem Fall. Wahrscheinlich logen dieSharmas ebenfalls, denn so war es meistens: Man musste durch ein Gestrüpp von Lügen zu den Tatsachen vordringen, und manchmal konnte sogar ein Puzzle, das sich aus lauter Lügen zusammensetzte, ein Bild der Wahrheit zeigen.
Van Leeuwen saß auf der Couch und sah zu, wie die Konturen des Raums immer mehr in der Dunkelheit verschwanden. In Gedanken hörte er Cariens Stimme: Haben Sie schon mal jemanden verloren, den Sie mehr geliebt haben als alles andere? Er hatte Sim das erste Mal verloren, als sie mit ihrem italienischen Geliebten fremdgegangen war, und dann hatte er sie an die Krankheit verloren, und schließlich hatte er sie noch einmal verloren, als er die Briefe fand.
Wie oft kann man einen Menschen verlieren, den man liebt, überlegte er, und wie oft kann man ihn wiederfinden? Er fand ein bisschen von Simone wieder, wenn er eine
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