Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
Rhythmus finden. Ich darf meine Kraft nicht verschwenden. Ich habe nicht mehr viel Kraft, und wenn ich das bisschen auch noch verschwende, war alles umsonst.
Dann dachte sie nichts mehr, sie kämpfte. Mit Armen und Beinen stieß sie sich vorwärts, legte ihre ganze Kraft in jeden Stoß, atmete, stieß sich weiter. Sie merkte, wie ihr heiß wurde. Die Hitze ging von der Hüfte auf und stieg ihr in den Kopf. Sie zählte jeden Stoß. Sieben, acht, neun. Beim elften Mal sah sie kleine tanzende Kreise über dem Wasser. Beim neunzehnten Stoß beschlugen ihre Ohren, und sie hörte nur noch ihren keuchenden Atem weit oben in sich. Dann spürte sie ihre Arme und Beine nicht mehr, nur noch etwas, das brannte und zitterte.
Zwanzig. Einundzwanzig. Zweiundzwanzig.
Solange sie Schmerzen hatte, war alles in Ordnung. Erst wenn sie nichts mehr spürte, musste sie sich Sorgen machen. Wenn sie nicht mehr wusste, ob sie sich noch bewegte oder nicht. Sie fragte sich, wie es wohl sein mochte, wenn man ertrank. Statt der Schwimmstöße begann sie ihre Schmerzen zu zählen. Schmerzen in der Hüfte. Schmerzen in der Brust. Schmerzen in den Beinen und in den Schultern. Der Rücken war ein einziger Schmerz. Die Hände, was war mit den Händen? Sie spürte ihre Füße nicht und die Hände auch nicht, keine Empfindung in den Fingern und Zehen.
Das Ufer kam einfach nicht näher, es wich zurück. Es hob und senkte sich und wurde immer dunkler, immer kleiner.
Sie hörte auf zu zählen, aber sie schwamm weiter. Sie hatte Durst. Ihr Mund zog sich zusammen, so durstig war sie. Sie presste die Lippen aufeinander und versuchte, nur durch die Nase zu atmen, und dann dachte sie, dass sie schreien musste, und sie schrie. Sie schrie und rief um Hilfe und verschluckte sich und hustete keuchend, bevor sie weiterschrie.
Der Tanker übertönte ihre Rufe, sie gingen unter im Schäumen der Bugwelle, dem Dröhnen der Turbinen. Sie merkte, dass die Kraft sie jetzt doch verließ. Dann riss etwas in ihr, von einem Herzschlag auf den nächsten, und sie hörte auf, sich zu bewegen. Hielt nur noch den Kopf über Wasser. Starrte mit leerem Blick auf das Wasser und die Bugwelle des Tankers, die auf sie zurollte. Da,wo der Riss in ihr war, breitete sich ein Gefühl von betäubender Süße aus.
Die Lust aufzugeben. Das Unvermeidliche hinzunehmen.
Sie schloss die Augen. Lass es , dachte es in ihr, gib auf. Ist doch egal, ist doch alles egal, du schaffst es sowieso nicht. Warum willst du weiterleben, wofür denn? Stell dir vor, du siehst Amir wieder, gleich schon, er ist nicht mehr tot, er liegt nicht mehr im Ofen des Krematoriums. Du stirbst, aber nur kurz, und wenn du aufwachst, seid ihr wieder zusammen, und niemand ist mehr hinter euch her, alles ist gut ... alles ist gut ...
Sie spuckte Wasser aus. Schwarz ragte die Bordwand des Tankers vor ihr auf. Sie spürte, wie sie von einer großen Woge hochgehoben wurde, und einen Moment lang sah sie alles klar und deutlich, die Lichter Amsterdams und den Hauptbahnhof und den Zug mit den hell vorbeiratternden Fenstern, doch dann glitt sie in ein Wellental und rutschte immer schneller auf den mächtigen Leib des Tankers zu.
Als sie gegen die Bordwand prallte, sah sie das erste Bild, kurz nur und flackernd, etwas überbelichtet. Sie begriff nicht sofort, dass es das erste Bild war und was es bedeutete. Sie sah Amir, sein sanftes, unergründliches Lächeln. Sie sah ihn, wie er ihr zuwinkte, bevor er an dem Abend weggegangen war, und dann sah sie ihn von ganz nah, wie er das erste Mal zu ihr kam, in ihr Bett, seine Zimthaut, die großen dunkelbraunen Augen.
Die Bilder folgten schnell aufeinander, manche wirkten verwackelt und andere gestochen scharf, und auf einigen war sie selbst zu sehen, während sie andere nur von außen betrachtete wie einen Film. Sie sah ihre Mutter, die sie auf dem Arm hielt, dicht an ihrer Brust, an ihrem schlanken weißen Hals. Und sie sah auch ihren Vater, der sie immer wieder in die Luft hob, lachend schwenkte er sie hin und her, bevor er sie in den Dorfteich tauchte und losließ, damit sie schwimmen lernte.
Sie sah ihn durch das dünne Wasser, in dem sie unterging, durch das sie wieder nach oben stieß, sah sein stolzes Lächeln, mit dem er ihr eine Hand entgegenstreckte und immer wieder zurückzog,sobald sie danach greifen wollte, und sie schwamm ihm hinterher, auf ihn zu, tatsächlich, sie schwamm.
Sie sprang vor und zurück in den Bildern und Szenen. Sie sah sich als Kind, sie ritt auf einem
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