Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
längliches Kuvert, auf dem sein Name stand, Bruno , in Simones kräftiger, gut lesbarer Handschrift. Außer dem Brief lag nichts in dem Koffer, aber Van Leeuwen dachte, sein ganzes Leben . Er riss das Kuvert auf, und als er zu lesen begann, musste er sich mit den Ellbogen auf den Oberschenkeln abstützen, damit seine Hände aufhörten zu zittern.
Bruno,
wenn du das hier liest, bin ich nicht mehr bei dir. Vielleicht lebe ich noch. Vielleicht schlafe ich sogar in meinem eigenen Bett oder sitze irgendwo, wo du mich sehen kannst. Aber die Frau, die dir gerade schreibt, bin ich dann schon lange nicht mehr, und das, was ich dir jetzt sagen möchte, wird in mir verschwunden sein. Ich bin auf der Reise in die Dunkelheit, und wenn du diesen Brief in den Händen hältst, bist du mir schon weiter gefolgt, als irgendjemand von dir erwarten konnte.
Ich will dir von unserem Leben erzählen, von meiner Hälfte des Glücks. Ich will daran denken, solange ich noch kann. Ich fange an, Dinge zu vergessen. Ich weiß, dass es bald mehr werden, und ich habe Angst, dass du sie auch vergisst, weil wir uns nicht mehr zusammen daran erinnern können. Ich will dir davon erzählen, wie kostbar mir diese Erinnerungen sind.
Ich habe viel falsch gemacht in letzter Zeit. Bestimmt weißt du inzwischen, wovon ich rede. Ich hatte das Gefühl, du wärst mir plötzlich fern, und dabei warst du immer noch da und so stark. Dann dachte ich, nur ich wäre nicht mehr da, ich müsste mich wiederfinden. Aber das habe ich nicht; stattdessen habe ich mich noch mehr verloren.
Dann hast du mich wiedergefunden, als wir plötzlich merkten, dass etwas mit mir nicht mehr stimmt. Ich habe nie den Mut aufgebracht, mit dir darüber zu reden. Ich konnte es dir nicht sagen, aber ich wollte trotzdem, dass du es erfährst, damit ich in deiner Erinnerung nicht nur die bin, die du immer in mir gesehen hast. Vielleicht ist es dann leichter für dich, wenn du auch wütend auf mich sein kannst. Du warst immer so ein guter Polizist; wenn du wolltest, konntest du alles finden.
Es gab eine Zeit, da war ich gut. Ich gehörte dir allein, und alles, was wir in dieser Zeit taten, war für immer, so schien es mir. Noch eine Erinnerung , dachte ich oft, wenn wir zusammen etwas besonders Schönes erlebt hatten – eines Tages, wenn wir alt sind, werden wir sie alle hervorholen, und sie werden noch immer klar und scharf sein und funkeln wie Diamanten, die man ins Licht hält. Wir werden sie von allen Seiten betrachten, und ich werde sagen, weißt du noch?, und wir werden niemals fragen müssen: Warum waren wir zusammen?
Weißt du noch, unser erster gemeinsamer Winter in Amsterdam? Wie kalt es in der kleinen Wohnung war, weil wir nicht genug Geld hatten, um jeden Tag zu heizen, und wie wir Schlittschuhlaufen waren im Vondelpark und danach zur Stadhouderskade gerannt sind, um uns im Rijksmuseum aufzuwärmen? Es gab da einen Wärter, der uns immer umsonst hineingelassen hat, sodass wir all die herrlichen Bilder von Rembrandt und Van Gogh und Vermeer und Breughel anschauen konnten, bis wir den Hunger nicht mehr aushielten, und dann sind wir durch den frühen Abend auf den zugefrorenen Grachten bis zur Centraal Station geflitzt, um im Grand Café 1er Klas Kaffee zu trinken und zu sehen, was es zu essen gab, es nur anzusehen.
Nichts passt besser zur Stimmung der Vorweihnachtszeit als so ein großes Café mit einer hohen Decke, holzgetäfelten Wänden, Jugendstillampen und Topfpalmen, zwischen denen wir – durchgefroren und hungrig – vor aller Welt den Trapezakt unserer Liebe vollführten und dabei an nichts hingen als an dem Band, das sich zwischen unseren Herzen spannte. Wir saßen ganz nah an der Tür zu den Gleisen, weitab von der reich gefüllten Theke, weitab auch von den eleganten Reisenden, die mit großen Koffern auf ihre Züge in die ganze Welt warteten. Wir tranken Kaffee und Wein und aßen die kleinen Kekse, die es umsonst zum Kaffee gab, aber die meiste Zeit hielten wir uns an den Händen, sahen uns in die Augen und fütterten einander zwischendurch mit Küssen wie schnäbelnde Vögel.
Und weißt du noch, wie wir am Ende des Abends plötzlich feststellten, dass du beim Schlittschuhlaufen dein Portemonnaie verloren hattest, und wie wir – der angehende Polizist und seine durch und durch katholische Frau – die Zeche geprellt haben? Ich bin zuerst aufgestanden, um das stille Örtchen aufzusuchen, und danach du, aber der Kellner hat uns nicht aus den Augen
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