Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
Vorfahrtsregeln beachtete, den Signalen der Ampeln folgte, andere Wagen nicht bedrängte, aber auch nicht behinderte und bei alldem noch Zeit fand, seinen Gedanken, Beobachtungen und Mutmaßungen Ausdruck zu verleihen.
Als sie auf der anderen Seite des IJ-Tunnels am Leichenfundort eintrafen, waren die Wolken verschwunden. Die Luft roch nach Tang und Brackwasser, und das Erste, was der Commissaris sah, war das gelbe Sommerkleid. Er dachte, Carien Dijkstra , und jetzt stand er neben ihr und sah auf sie hinunter, und so begann sein Tag.
»Was ist mit ihr passiert?«, fragte Brigadier Tambur. »Wie ist sie hierhergekommen?«
»Sie ist angespült worden«, sagte Hoofdinspecteur Gallo. »Ja, aber von wo?«
»Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, wollte sie zur Fähre nach Noord«, sagte Van Leeuwen.
»Angekommen ist sie zumindest«, meinte Gallo.
Doktor Holthuysen kniete in seinem weißen Overall neben der Leiche und drehte sie jetzt vorsichtig auf den Rücken. Cariens Gesicht war blau verfärbt und angeschwollen unter den nassen Haarsträhnen, die an ihrer Stirn klebten. Ein tiefer Riss zog sich vom Scheitel bis zur rechten Schläfe.
»Wie lange ist sie schon tot?«, fragte Van Leeuwen, als der Arzt Carien die Haare aus der Stirn strich, um den Riss genauer in Augenschein zu nehmen.
»Sechs bis acht Stunden«, antwortete Holthuysen, nachdem erseinen Mundschutz abgenommen hatte. »Wenn sie länger im Wasser gelegen hätte, sähe sie anders aus.«
»Wie ist sie gestorben?«
Der Arzt stand auf, zog sich die Plastikhaube vom Kopf und streifte die Handschuhe ab. »Ich denke, jemand hat die Tote mit einem Messer angegriffen und dann ins Wasser geworfen, wo sie mit etwas kollidiert ist, wahrscheinlich mit einem Schiff. An der Wunde allein wäre sie wohl nicht gestorben, aber der Blutverlust hat sie so geschwächt, dass sie es nicht mehr bis zum Ufer geschafft hat, und das Schiff – wenn es ein Schiff war – hat ihr dann den Rest gegeben. Ich muss sie natürlich noch obduzieren, aber wir sollten davon ausgehen, dass ich mich nicht irre, weil ich mich noch nie geirrt habe. Und wenn ich Ihnen sage, dass es sich bei dem Messer wahrscheinlich um die Tatwaffe handelt, die auch bei dem Mord an Amir Singh benutzt wurde, habe ich ebenfalls recht.«
Einen Moment lang hatte Van Leeuwen das Gefühl, das Gleichgewicht zu verlieren. Er sah auf das IJ hinaus. Es schien, als bewegten sich die Häuser auf der anderen Seite und nicht das Wasser, die Häuser und das Ufer. Auch der Himmel bewegte sich. Ein Fischreiher stand still in der Luft unter den treibenden Wolken. Dann stieß er herab, tauchte in die Wellen und stieg mit einem blinkenden Fisch im Schnabel wieder auf, und diese Bewegung brachte alles ins Lot.
»Rufen Sie mich an, sobald Sie sicher sind«, sagte der Commissaris zu Holthuysen. Dann wandte er sich an Gallo und Julika. »Die letzte Meeuwenlaan-Fähre vom Waterplein West nach Noord geht um 23 Uhr 57, mit der fangt ihr an. Wenn das nichts bringt, nehmt ihr euch die anderen IJ-Fähren vor. Carien Dijkstra war mit dem Fahrrad unterwegs. Sie trug dieses gelbe Sommerkleid und eine blaue Jeansjacke, und sie hatte eine helle Wildledertasche dabei. Sie muss jemandem aufgefallen sein. Unsere Leute sollen Zeugen suchen, unter den Fährbesatzungen und den Passagieren, außerdem sollen sie nach dem Fahrrad Ausschau halten, und vielleicht finden sie die Tasche.«
Auf dem IJ fuhr ein Frachtschiff vorbei. Das Schiff lag tief, und im Heck flatterte bunte Wäsche an einer Leine hinter der Kapitänsbrücke.Die Bugwelle schwappte kurz darauf ans Ufer und spülte an den Steinen entlang, bis sie Cariens Kopf erreichte und ihn sacht anhob, und einen Moment lang sah es so aus, als hätte die junge Frau doch nur geschlafen.
Die Sanitäter stellten eine Trage neben der Leiche ab. Sie hievten den schmalen Körper in eine dunkelgraue Plastikhülle und zogen den Reißverschluss zu, bevor sie Carien Dijkstra zur Ambulanz trugen. Van Leeuwen sah zu, wie sie den Plastiksack auf der Trage in den Wagen schoben, und er spürte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Ich bin unfähig, dachte er. Ich konnte sie nicht beschützen. Sie ist vielleicht getötet worden, weil sie mit mir geredet hat, und ich habe es nicht verhindert. Ich brauche zu lange, um den Mord an Amir aufzuklären. Wäre ich schneller gewesen, könnte Carien noch leben. Ich versage immer wieder.
Am Nachmittag, um 16 Uhr 07, traf der Bericht des Pathologen ein, und der
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