Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
die eine Saite in ihr anrührten, mit einem Bogenstrich aus der Vergangenheit, den sie wiedererkannte. Er begleitete sie ins Bad und achtete darauf, dass sie nichts verwechselte. Er half ihr, den Schlafanzug anzuziehen, die rote Hose mit den gelben und orangefarbenen Punkten und eine ärmellose schwarze Jacke mit gel ben Streifen. Solange er sie kannte, konnten ihre Sachen nicht bunt genug sein, und nie passte etwas zusammen.
Anschließend ging er mit ihr ins Schlafzimmer. Die Türen des Kleiderschranks, die nicht mehr richtig schlossen, waren offen, und ein Strom von Kleidern aus dreißig Jahren des Zusammenlebens ergoss sich über den Teppich. Blusen, Röcke oder Hosen lagen auch unter den Fenstern und unter dem Bett, andere quollen aus den halb herausgezogenen Schubladen oder hingen über einer Stuhllehne und manchmal sogar über den Blumen auf dem Fensterbrett. Als Ellen am Nachmittag die Wohnung verlassen hatte, war bestimmt noch alles picobello gewesen. Er wartete, bis Simone im Bett lag,dann schaltete er den Fernseher im Wohnzimmer aus und löschte das Licht. Er ging selbst ins Bad, und als er wieder ins Schlafzimmer kam, saß sie aufrecht in ihrer Hälfte des großen Betts. »Ich bin ja da«, sagte er, »bin ja da.«
Sobald Van Leeuwen es sich auf seiner Seite des Betts mit dem Bildband im Schoß bequem gemacht hatte, streckte Simone sich beruhigt aus, schloss die Augen und schlief ein. Reglos und steif, als wäre sie aus Stein, lag sie auf dem Rücken, wie das Abbild einer Königin auf seinem Sarkophag. Ihr Gesicht war ohne jeden Ausdruck, es glich einer Maske, hinter der sich nichts verbarg und niemals mehr ein Traum Gestalt annehmen würde.
Van Leeuwen lauschte noch einen Moment lang ihren ruhigen, friedlichen Atemzügen, dann schlug er Goyas Zeichnungen auf, die Caprichos und die Desastres de la guerra von 1799. Es war zu früh zum Nachdenken; durch Nachdenken konnte er den Fall erst zu lösen versuchen, wenn er mehr wusste. Bis dahin behalf er sich mit den Zeichnungen.
Die Farben der Caprichos – ursprünglich mit Feder, Bister, Tusche, Rötel, rotem Lavis oder Bleistift angefertigt – waren Schwarz, Grau und Weiß, doch fanden sich darin alle Schattierungen zwischen absolutem Dunkel und lichtem Hell, bösartigsten Tätern und arglosesten Opfern, und sie zeigten vor allem das, was sie miteinander verband – das Verbrechen, begangen aus Hochmut, Neid, Geiz, Gier, Zorn, Schamlosigkeit oder Angst.
Besonders eine Darstellung, die sechste aus einer Reihe mit dem Titel Man kennt sich gegenseitig nicht , berührte Van Leeuwen in diesem Moment. Sie zeigte eine Karnevalsszene, venezianische Masken, dahinter verborgen Lust auf nacktes Fleisch, versehen mit einem Kommentar des Malers: Die Welt ist eine Maskerade. Gesichter, Kleider, Stimmen – alles ist falsch. Alle möchten als etwas erscheinen, was sie nicht sind; jeder täuscht jeden, und keiner kennt den anderen.
Goyas Koninginnedag, dachte Van Leeuwen.
Er blätterte weiter von Skizze zu Skizze. Da waren spanische Banditen, die eine junge Frau verschleppten; eine Landstreicherin, die einem Erhängten die Goldzähne herausbrechen wollte; einekindliche Schönheit, die an einen grinsenden Krüppel verheiratet wurde. Zwei gebrechliche Männlein trugen Maultiere auf ihrem Rücken; ein Kranker lag im Bett, und ein Esel fühlte seinen Puls. So viel zur Medizin, schien die Zeichnung zu sagen.
Vogelscheuchen spreizten ihre hölzernen Beine, verkleidet mit Mönchskutten, bei deren Anblick Männer und Frauen auf die Knie sanken. Feiste Inquisitoren ragten düster über ihren in Ketten geworfenen Opfern auf, die Gesichter vom Gegenlicht verschluckt. Ketzer lagen im Schatten auf Kerkerböden, greller Sonnenschein fiel ohne sichtbaren Ursprung auf eine gemarterte Brust, auf schwarzes Blut. So viel zur Religion.
Ein nackter Mann mit einem Geiergesicht ritt auf einem Tier, halb Esel, halb Wildsau, während neben ihm im Staub ein anderer nackter Mann mit einer unbekleideten Frau kämpfte, sie an den Haaren riss, Liebesakt und Totschlag zugleich. Immer albtraumhafter wurden die Gestalten, kaum noch menschliche Ungeheuer, zweibeinige Kreaturen mit flatternden Fledermausflügeln, Hundepfoten und Eselsschwänzen. Freier mit Hahnenkamm und Schnabel, die von gierigen Stricherinnen ausgenommen wurden. Nutten mit Vogelköpfen, die von Richtern in Katzengestalt abgeurteilt wurden, aneinandergefesselte Männer und Frauen, bewacht von riesigen bebrillten Eulen. So viel zur
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